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Eleanor Rigby

Eleanor Rigby

Titel: Eleanor Rigby Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Coupland
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plötzlich heimsuchte, raubte mir fast die Sinne. Nach dem ersten Anfall kehrte ich benommen wieder in die Realität zurück. Rainer fragte mich gerade, was mit mir los sei. Als ich in den Spiegel hinter ihm schaute, stellte ich fest, dass ich kreidebleich war. Ich hatte noch nie erlebt, dass ein Körper so etwas machte, erst recht nicht mein eigener.
    »Ich bringe Sie sofort zurück ins Hotel, Liz.« »Es ist nichts.«
    »Nein, vermutlich war nur Glutamat im Essen.«
    »Wahrscheinlich haben Sie recht.« Aber seit Frankfurt sind Kopfschmerzen für mich natürlich nicht mehr nur Kopfschmerzen.
    Er fuhr mit mir im Taxi zu meinem Hotel, wo ich bis zum Sonnenaufgang des nächsten Morgens - also heute - durchschlief.
    Heute Nachmittag um drei Uhr soll ich Klaus Kertesz treffen, in einem Zimmer im Rathaus. Ich kann nur sagen, dass ich froh bin, Stift und Papier zu haben, um mir die Zeit bis ... bis in einer halben Stunde zu vertreiben.
    Ich muss los.

~64~
    Im Taxi zum Rathaus fühlte mein Kopf sich an wie ein Backofen, der den ganzen Tag voll aufgedreht war, ohne dass etwas darin gebacken wurde. Ich war total durch den Wind.
    Rainer nahm mich an der Eingangstür in Empfang und geleitete mich hinein. Drinnen war es kühl. Schnellen Schrittes gingen wir über Marmorfußböden, die jahrhundertelang von eleganten Lederschuhen blank geputzt worden waren, zu einem Raum am Ende eines langen Korridors im zweiten Stock. Vor einer Holztür blieben wir stehen. Die obere Hälfte bestand aus einer geriffelten Glasscheibe, durch die ich drinnen die Umrisse eines Menschen erkennen konnte.
    Rainer fragte mich: »Kommen Sie zurecht?«
    »Weiß er, dass ich es bin?«
    »Nein.«
    »Wie haben Sie ihn überredet zu kommen?« »Das war eher seine Familie. Sie wollen, dass der Trubel um ihn aufhört.«
    Ich erklärte, ich sei bereit, und betrat den Raum.
    Dort saß mehr oder weniger Jeremy, nur viel älter. Er hatte gerade aus dem Fenster geschaut, und als er sich zu mir umdrehte, schenkte er mir Jeremys gewinnendes Lächeln.
    Klaus kam einen Schritt auf mich zu und sagte: »Das gibt's doch nicht. Queen Elizabeth. Hallo.«
    Nur damit es nicht so aussieht, als würde ich hier auf einen fulminanten Höhepunkt zusteuern, sage ich jetzt geradeheraus, dass Jeremy am Morgen des 23. Dezember starb - 1 nachdem er nur vier Monate bei mir gewohnt hatte. Ich war gerade im Badezimmer und zählte seine Pillen, und als ich wieder herauskam, stellte ich fest, dass sein Körper irgendwie einfach ... aufgehört hatte. Seine letzten Worte waren ein Scherz gewesen, ungefähr eine Stunde vorher: Diese Matratze ist sowohl bequem als auch erschwinglich.
    So. Jetzt, wo ich das hinter mir habe, geht es mir besser. Sein Tod kam viel schneller, als irgendjemand erwartet hatte, aber MS ist nun mal unberechenbar.
    Nur damit es nicht vergessen wird — hier ist eine Liste mit ein paar von Jeremys Symptomen:
     
    Taubheitsgefühl
    Kribbeln
    Sehstörungen
    Gehunfähigkeit
    Unfähigkeit, Hitze zu ertragen
    Muskelkrämpfe
    Herunterschlucken von Problemen
    Verlust der Empfindungsfähigkeit
    Inkontinenz
    Demenz
     
    Die meisten MS-Kranken fuhren ein halbwegs normales Leben und kommen jahrelang ganz gut zurecht. Jeremys MS war »primär progredient«. Diese Form der Krankheit schreitet mit übelkeiterregendem Tempo voran und ist, wenn sie erst mal ausgebrochen ist, nicht mehr zu stoppen. Am Ende nahm er fast nur noch Pillen und Infusionen zu sich: Prednison, Betaseron und Glätirameracetat. Meistens lösten die Medikamente Übelkeit oder Verwirrtheit aus, aber dann und wann führten sie auch zu einem abendfüllenden Gespräch. Positiv zu verbuchen war, dass Jeremy keine Stimmungsschwankungen oder Phasen von Apathie hatte, die im Spätstadium von MS so verbreitet sind. Dafür war ich dankbar. Sein Humor und sein Charme ließen ihn nicht ein einziges Mal im Stich.
    Es waren diese verdammten Knötchen aus toten Eiweißen in seinem Gehirn, wie Rosinen im Rosinenbrot, die Jeremy der Bewegungen, Ticks und Gesten beraubten, die uns lebendig machen. Ich muss mich darauf besinnen, das Ganze aus dem Blickwinkel des Mediziners zu betrachten, denn ich konnte keine göttliche Botschaft darin sehen - keine Gnade, keine höhere Logik, keinen tieferen Sinn, der erklärte, warum er da auf meiner Couch lag, während der Herbst in den Winter überging, während Hale-Bopp kam und wieder verschwand und Jeremy gegen Ende November schließlich sein gewinnendes Lächeln verlor.
    Als ich ihm eines

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