Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eleanor Rigby

Eleanor Rigby

Titel: Eleanor Rigby Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Coupland
Vom Netzwerk:
Nachmittags die Haare schnitt, schaute er mich an und sagte: »Komm schon, Mom, es muss doch was zu sehen sein. Ich geb mir echt Mühe.«
    »Tut mir leid, Schatz.«
    »Mist. Dieses Lächeln sollte mich durch meine besten Jahre tragen.«
    Bis Dezember waren Jeremy schon so viele von seinen Jeremyismen abhanden gekommen, dass der Verlust seines gewinnenden Lächelns ihm eher antiklimaktisch erschien. Für mich war es hart, denn es war genau dieses Lächeln gewesen, das mich auf seine Seite des Universums geholt hatte. Immerhin war dies der Mann, mit dem ich bereits am Tag unserer ersten Begegnung mitten in der Rushhour den Highway entlanggekrochen war.
    Dr. Tyson kam alle paar Tage vorbei, doch sie konnte nicht viel mehr tun als zusehen und noch mehr Pillen verschreiben. Obwohl sie nicht dazu verpflichtet war, brachte sie mir ein paar praktische Dinge über Infusionen, Schläuche und Rollstühle bei. Ich bin stolz darauf, dass ich mich in dieser Hinsicht als fähig erwies.
    William kam immerhin alle paar Tage zu Besuch, und jedes Mal brachte er ein paar Infos mit, die er im medizinischen Untergrund gesammelt hatte — ja, es gibt einen medizinischen Untergrund -, und die uns einen schwachen Hoffnungsschimmer schenkten. Es ist erstaunlich, wie lange man versucht, mit einer Krankheit zu schachern. Wenn wir nur nach Baltimore fliegen und diese neue Antikörper-Therapie ausprobieren können, wären all unsere Probleme gelöst! Das Verdrängen war einfach; als wirklich schwierig erwies sich dieses Hadern. Stammzellen bieten heutzutage eine echte Chance, aber noch vor sieben Jahren - null. Mutter und Leslie trugen auch ihren Teil bei, der einfach darin bestand Jeremy zu besuchen.
    Außerdem hatte ich die beste Medizin von allen parat: bändeweise Literatur über Landwirtschaft, die Jeremy so gern las oder sich vorlesen ließ. Als es ihm so schlecht ging, dass er kaum noch einen Finger rühren konnte, las ich ihm vor, was zu beachten ist, wenn man Alfalphafelder brachliegen lässt, welche Maßnahmen bei Ferkeln zu ergreifen sind, die nicht trinken wollen, oder welche Vorzüge es hat, ein Kleinflugzeug zu mieten und das eigene Land von oben zu betrachten. Wir bauten in diversen Styroporbehältern Stangenbohnen und Radieschen vor den Fenstern an.
    Sollte ich jemals in eine Quizshow eingeladen werden und Fragen zum Thema Landwirtschaft beantworten müssen, könnt ihr sicher sein, dass ich den Minivan mit dem eingebauten Fernseher inklusive Kabelvertrag gewinne.

~65~
    Okay, mir ist schon klar, was ich hier tue — ich benutze die Medizin und die Wissenschaft dazu, die Aufmerksamkeit von dem abzulenken, was meinen Sohn ausmachte und ihn so einzigartig sein Heß: seine Visionen - seine ... o Gott, mir ist egal, wie ihr sie inzwischen nennt. Aber Jeremy hat tatsächlich etwas gesehen, was auch immer es war. Etwas Unheimliches. Basta.
    Eines Nachmittags, als ich gerade in einer Zeitschrift las, sagte er: »Kannst du sie sehen?«
    Ich fragte: »Was?«
    »Die Luft vor uns. Sie ist voller Metallrohre.« »Rohre?«
    »Ja, so eine Art Kanalisationsrohre. Sie schweben vor unserer Nase herum — und jetzt dringen sie in mich ein. Sie bohren Löcher durch meinen Körper. Tunnel.« Er starrte an die Decke, während er das sagte.
    Ich schrieb mit. »Was siehst du sonst noch?«
    »Ich schaue auf den Boden, aber ich werfe keinen Schatten. Statt meines Schattens ist da Licht.«
    »Und?«
    »Ich habe einen dunklen Raum betreten. Jetzt sehe ich einen Planeten vor mir. Die Erde. Sie ist ungefähr so groß wie du. Sie glüht wie in den alten NASA-Aufnahmen. Und sie dümpelt mitten im Zimmer herum.«
    »Was macht sie?«
    »Nichts. Sie schwebt. Wenn ich hingehen und pusten würde, könnte ich einen Hurrikan auslösen, wo immer ich will. Ich habe gerade die Antarktis berührt. Sie ist kalt. Und jetzt betrachte ich meine Finger.« »Weiter.«
    »Die Erde leuchtet so hell, dass das Blut in meinen Händen hellrot durch die Haut scheint.« »Okay.«
    Jeremy verstummte eine Zeitlang. »Sonst noch was?«, fragte ich. »Nein. Nichts.« »Versuchs weiter.«
    Nach ein paar Sekunden sagte er: »Ich werde dich nie richtig kennenlernen, Mom. Das weißt du.« »Ja.«
    »Ich hätte schon vor Jahren Kontakt mit dir aufnehmen sollen.«
    »Unsinn.«
    »Ich werde keine Bilder mehr in meinem Kopf sehen.« Ich wollte protestieren, aber er sagte: »Nein, Mom. Es ist vorbei. Das musst du jetzt übernehmen.«
    »Ich kann nicht.«
    »Doch. Wenn ich etwas so Albernes wie

Weitere Kostenlose Bücher