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Eleanor Rigby

Eleanor Rigby

Titel: Eleanor Rigby Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Coupland
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Nacht.

~63~
    Rainers Büro war auf diese stereotyp bürokratische Weise trostlos, an der selbst das verschnörkelte Wien nichts ändern konnte. Es hatte nikotinfleckige blau, grau und grün vertäfelte Wände. Die Arbeitsplätze waren durch hauchdünne Glasscheiben voneinander getrennt. Das Fehlen von stoffbezogenen Trennwänden und nichtssagenden Postern zur Beschwörung des Teamgeists bewahrte das Revier davor, so auszusehen wie Landover Communication Systems. Und der Zigarettenrauch. Wenn ich's recht bedenke, sind das Merkwürdige an Wien nicht nur die allgegenwärtigen Kekse, sondern auch die allgegenwärtigen Zigaretten. Das ist so, als würde man an jeder Ecke auf einen Spucknapf stoßen. Was kommt als Nächstes - scharlachrote Buchstaben?
    Als ich Rainers Büro betrat, sorgte ich für eine kleine Sensation, nach dem Motto: Die Frau, die vor vier Tagen den gesamten Frankfurter Flughafen lahmgelegt hat.
    »Kommen Sie, Liz, ich bin hier.« Rainer winkte mich herein.
    Auf seinem Schreibtisch stand ein Kaffee und tatsächlich wieder so ein Keks.
    »Rainer, was hat es mit den Keksen in Wien auf sich?« »Was meinen Sie?«
    »Überall, wo ich hier hinkomme, reicht man mir Kekse. Machen Sie das, um das Unterbewusstsein zu lösen oder so was?«
    »Kleine Zuckermengen tragen immerhin dazu bei, Ideen und Erinnerungen freizusetzen.«
    »Es hat also System.«
    »System?«
    Ich merkte, dass die Beamten vor den Fenstern so taten, als würden sie mich nicht angaffen.
    »Kümmern Sie sich nicht um meine Kollegen«, sagte Rainer. »Sie sind eine Berühmtheit. So etwas haben wir hier nicht oft.« Er nahm ein billiges, polizeilich wirkendes Fotoalbum aus schwarzem Vinyl aus einer Schreibtischschublade, aber offenbar widerstrebte es ihm, es zu öffnen.
    »Soll ich mir das ansehen?«, fragte ich.
    »Ja. Aber noch nicht jetzt.« Er zündete sich eine Zigarette an und sagte: »Liz, unser Essen gestern war privat, und es war ein sehr amüsanter Abend, aber wir haben es für besser gehalten, nicht über die Angelegenheit in Rom und Herrn Kertesz zu reden.«
    »Das war sehr aufmerksam von Ihnen. Danke. Ja, es war ein schöner Abend.«
    »Sie sind extra hergeflogen, um sich mit mir zu treffen. Daraus kann ich nur schlussfolgern, dass zwischen Ihnen und Herrn Kertesz eine enge Beziehung besteht.«
    »Klaus Kertesz? Ja.«
    »Darf ich Sie jetzt bitten — mein Büro ist schallisoliert —, mir zu erzählen, was ich über diesen Mann wissen muss — soweit es Sie betrifft?«
    Was sollte ich sagen? Dies war der Moment, auf den er gewartet hatte. Ich hatte die Arme schützend vor meiner Brust verschränkt. Auf der Ecke eines Fotos, das aus dem Vinylalbum ragte, entdeckte ich einen himmelblauen Hintergrund - das gleiche Blau wie auf dem Jpeg-Foto von Klaus Kertesz, mit dem diese ganze Odyssee begonnen hatte.
    Dieser schmale Streifen Blau gab mir den Rest. Ganz gegen meinen Willen begann ich zu keuchen und nach Luft zu schnappen — eine Panikattacke, meine erste, und ich stellte mich keinen Deut besser an als Scarlet Halley fünf Meilen über Reykjavik. Mir fällt auf, dass ich genau wie Scarlet an Bord der 747 und Jeremy auf dem Sofa in meiner Wohnung endlich einen Ort gefunden hatte, an dem ich mich sicher genug fühlte, um die Fassung zu verlieren — vor diesem stoppelbärtigen Eurokraten, der aussah wie ein Zellengenosse von Vaclav Havel. Als Nächstes begann ich Rotz und Wasser zu heulen, etwas, das ich mein ganzes Leben zu vermeiden gesucht habe. Ich kann mir nichts Abstoßenderes vorstellen als mich, wie ich in Tränen aufgelöst in aller Öffentlichkeit ein Szene mache und völlig unabsichtlich Aufmerksamkeit errege.
    Als ich mich wieder beruhigt hatte, schob mir Rainer meinen Keks herüber und goss mir Kaffee nach. »Ich hab mir schon gedacht, dass da etwas war. Vielleicht können Sie mir erzählen, was passiert ist.«
    Der Zucker brachte mein Gehirn wieder auf Trab, und so erzählte ich Rainer von Rom und von Jeremy, wofür ich fast eine Stunde brauchte. Am Ende war ich fix und fertig, und Rainer sagte: »Kommen Sie, ich lade Sie zum Essen ein.«
    Also gingen wir in ein Bistro, und er machte nur leichte Konversation, was mir in dem Moment nur allzu recht war. Wien ist eine atemberaubende Stadt, der Traum eines jeden Urlaubers, doch die unzähligen Touristen, die unterwegs waren, beeinträchtigten diesen Zauber. Was hätten die frommen Bürger anderer Jahrhunderte zu den Tausenden von verschwitzten, halb nackten Touristen gesagt, die

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