Eleanor Rigby
Rückwärtssingen von dir erben kann, kannst du doch bestimmt ein paar Bilder in deinem Innern sehen.«
Es war spätnachmittags an einem Wochentag, und ich holte ein paarmal Luft und schloss die Augen. Da sagte Jeremy: »Versuch die Farmer zu finden.«
Und das tat ich.
Was sehen wir, wenn wir die Augen schließen? Alles und nichts. Ich habe mich oft gefragt, was Menschen, die blind geboren wurden, träumen. Träumen sie in Klängen und in Temperaturen? Hat das mal jemand dokumentiert?
Aus naheliegenden Gründen habe ich seit damals viel darüber nachgedacht, was es bedeutet, »Dinge zu sehen«. Zunächst einmal glaube ich, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, das den Unterschied zwischen Schlafen und Träumen kennt". Egal ob es sich um ein Löwenjunges, eine Qualle oder einen Farn handelt - Wachen und Träumen ist für sie alle das Gleiche. Ich glaube, bis vor kurzem, bis vor ein paar tausend Jahren vielleicht, galt das auch für die Menschen. Aber dann gab es dort draußen jemanden, der aus diesem System ausbrach, der den Menschen den Unterschied zwischen den beiden Welten erklärte. Deshalb gewöhnten sich die Menschen für ein paar hundert Jahre daran, das wahre Leben und die Träume als zwei verschiedene Orte zu betrachten. Und es war jemand wie Jeremy, der ihnen das gesagt hat.
Doch dann passierte noch etwas. Wir konnten zwar Traum und Realität auseinanderhalten, aber immer noch nicht die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Ein Tag war ein Tag war ein Tag.
morgen - gestern = heute = das Gleiche = immer
Irgendwo muss es jemanden gegeben haben, der einen entscheidenden Schritt machte — jemanden, der den anderen sagte, dass es jenseits unseres Erfahrungshorizonts einen Ort gab, der anders war als alles, was wir kannten, nämlich die Zukunft. Und durch die Zukunft veränderte sich das Leben der Menschen. Das Leben unserer Kinder veränderte sich, es wurde besser als das unsere. Wir konnten unsere intellektuellen Fähigkeiten auf die Frage verwenden, wie sich unsere Aufgaben effektiver erledigen ließen. Und es war jemand wie Jeremy, der den Menschen das sagte.
Und dann kam jemand und erzählte den Menschen, dass es nicht nur Leben und Tod gab, sondern auch das Leben nach dem Tod. Und es war jemand wie Jeremy, der den Menschen das sagte. Jeremys Aufgäbe war es, den Menschen solche Dinge zu verkünden, und nun hatte er beschlossen, diese Aufgabe an mich weiterzugeben.
An jenem Nachmittag in meinem Wohnzimmer sagte ich, ich würde versuchen, die Farmer zu sehen. Allerdings setzte ich wenig Hoffnung darauf, Erfolg zu haben.
~67~
Klaus Kertesz sagte: »Du erinnerst dich doch noch an mich, Elizabeth, oder?«
»Nein.« Es kostete mich viel Kraft, ruhig zu bleiben. Schließlich habe ich keinerlei Erinnerungen an Jeremys Zeugung. War dieser Mann ein Vergewaltiger? Trug ich eine Mitschuld an meiner Schwangerschaft? Ich konnte es mir nicht erlauben, ihn zu verurteilen. Tatsache ist, dass er mir Jeremy geschenkt hat. Das Resultat rechtfertigt zwar nicht die Mittel, aber ich, Liz Dunn, hatte einmal ein Kind. Und ich, Liz Dunn, wusste auch, wenn ich die Wahrheit über meine Nacht in Rom erfahren wollte, musste ich Ruhe bewahren. Vorwürfe und Tränen würden mir nichts bringen, und dieses Nichts bin ich einfach leid.
Außerdem ist Klaus, wie Rainer mir ja schon erzählt hat, geradezu unanständig gutaussehend, und mit schönen Menschen zu sprechen ist schwierig. Wie sehr man sich auch bemüht, es sich nicht anmerken zu lassen, man will ihnen einfach gefallen. Wir sind eine erbärmlich oberflächliche Spezies.
Klaus gab mir die Hand, und da bekam ich kurz weiche Knie. Wir warten so lange auf solche Momente, und wenn sie endlich da sind, stolpern wir genauso hilflos durch sie hindurch wie durch alles andere auch. Ich bin der letzte Mensch der Welt, dem gutes Aussehen die Sprache verschlägt, aber da sieht man's mal. Dumme, dumme Lizzie.
Er sagte: »Du erinnerst dich nicht an mich. Das sehe ich dir an. Schade. Ich hab dich noch sehr gut in Erinnerung.«
Dass sich überhaupt jemand an mich erinnert, ist jedes Mal wieder eine Überraschung, aber dass jemand mich gut in Erinnerung behalten hat? »Wirklich?«
»Natürlich. Diese Reise nach Rom. Unsere Eltern hatten uns alle fortgeschickt, damit sie ohne Kinder nach Skandinavien fahren konnten. Diese Reise hatte mit Bildung nichts zu tun. Sie war, wie sagt man, ein einziges Besäufnis. Hat es dir in Rom gefallen?«
»Ja.«
»Aber du
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