Eleanor Rigby
Natürlich kam ein bisschen zu schnell. »Danke für die Kodeintabletten.«
»Ich hab noch ganz viele davon, wenn Sie welche möchten. Das bringt mein Job so mit sich.«
Klaus blickte auf und sagte: »Lasst uns bitte auf die Polizeiwache gehen.«
Wir fuhren mit Rainers Wagen aufs Revier. Ich saß vorn, und Klaus grimassierte hinten stumm aus dem Fenster. Draußen waren Taubenschwärme zu sehen, japanische Touristengruppen und Steinmetzarbeiten, die dermaßen zart und verschnörkelt waren, dass sie wie aus einem Traum schienen.
Auf der Wache wurden wir durch diverse Aufzüge und Korridore geschleust, bis wir zu einem Zimmer mit einem Videorecorder gelangten. Klaus setzte sich, während Rainer mir zeigte, wie das Gerät funktionierte.
Ich sagte: »Es ist von meiner Geburtstagsparty im November 1997. Wir haben bei meiner Mutter gefeiert. Damals hatte Jeremy seine Gesichtsmuskulatur noch halbwegs unter Kontrolle. Wir waren alle ein bisschen beschwipst. Etwa einen Monat später ist er gestorben. Es war der letzte Abend, an dem alles an ihm noch gleichzeitig funktionierte.«
»Das würde ich gern sehen.«
Ich drückte auf Play, und wie immer war ich erstaunt, dass sich das Band seit damals noch nicht aufgelöst hatte. Zuerst knisterte und quietschte es ein bisschen, und dann waren ich, Jeremy, Mutter, William und seine beiden Gören zu hören, Nancy jedoch nicht, denn sie hatte an jenem Abend beschlossen, am anderen Ende des Zimmers zu schmollen. Leslie und ihre Familie waren auf Vancouver Island wandern.
Ich spielte an dem Abend den Kameramann. Als Erstes hatte ich William dabei gefilmt, wie er sagte: »Komm schon, Jeremy, wir müssen dir eine Aufgabe stellen, die eines Mannes würdig ist.«
»Ich werd mit allem fertig, du Schaumschläger.«
Meine Mutter und ich johlten, und die Kinder kreischten.
»Okay«, sagte William, »Versuchs mal hiermit...« Er schob eine Kassette in das Tapedeck, ein japanisches Modell, auf dem man das Band vorwärts und rückwärts abspielen konnte. Er schaltete sie ein, und es erklang »The Devil Went Down to Georgia« mit dem rasend schnell heruntergeratterten Text: Fire on the mountain, run boys run! The devil's in the house of the rising sun ...«
Jeremy brüllte: »Du willst mich wohl beleidigen! Stell das Ding aus und lass mich singen!«
William fummelte an den Knöpfen herum, und Jeremy sang den Song, ohne mit der Wimper zu zucken, rückwärts. Alle drehten sich zu William um. Er spielte das Tape ab - Jeremy hatte den Song genau getroffen. Es war ein amüsanter Abend.
Klaus fragte: »Was habt ihr denn da gemacht?«
Ich drückte die Pausentaste. »Lieder rückwärts gesungen. Eine merkwürdige Begabung, die Jeremy von mir geerbt hat.«
Ich ließ das Video weiterlaufen. William sagte gerade: »Okay, Meister, du bist einfach nicht kleinzukriegen. Warum machen wir dem Publikum nicht mal eine Freude?« Er wandte sich der Kamera (mir) zu und sagte: »Are we ready to rock!«
Die beiden Kinder murrten: »Sei still, Dad.«
William wiederholte: »Are we ready to rock!«
»Hör auf, Dad. Du verdirbst uns den Abend.«
»Meine Damen und Herren, der größte Publikumsknaller aller Zeiten: ›Bohemian Rhapsody ‹ !«
... I see a little silhouetto of a man ...
Jeremy sagte: »Mann, den Song kann ich in- und auswendig. Sir William — drücken Sie auf Aufnahme!«
Jeremy stand auf, was an sich schon eine Überraschung war, und mimte mit vollem Körpereinsatz einen der Drei Tenöre. Wir wären so perplex, dass wir, als er fertig war, kein Wort herausbrachten.
»Und?«, fragte Jeremy. »Könntest du wohl mal die Aufnahme abspielen?«
Die Aufnahme war irrelevant. Wir wussten, dass sie fehlerlos sein würde, und das war sie.
Ich sagte: »Jeremy, gibt es irgendwas, was du der Nachwelt sagen möchtest?«
Einer der Jungs fragte: »Was ist die Nachwelt?«
Mutter sagte: »Die Nachwelt ist das Wort dafür, ob die Leute sich an dich erinnern oder nicht, Schätzchen.«
Jeremy schaute in die Kamera und warf dem Objektiv in Zeitlupe einen Kuss zu. »Hallo, Nachwelt. Schön, dich endlich kennenzulernen.« Es war ein zauberhafter Moment, wie wenn sich im April ein Schauer von Pflaumenblüten über die Windschutzscheibe ergießt. »Freut mich, dass du zu unserer Party kommen konntest.«
»Eine Rede!« Mutter hatte schon ziemlich viel Cognac intus.
»An die Nachwelt und jeden hier im Raum: Ich wünsche euch Frieden, Wohlstand und ein langes, schönes Leben.« Er warf der Kamera noch einen
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