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Electrica Lord des Lichts

Electrica Lord des Lichts

Titel: Electrica Lord des Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Henke
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das Wolltuch enger um ihre Schultern. Obwohl der Sommer vor der Tür stand, konnten die Tage in Schottland noch recht kühl sein. Vor allem an der Küste. Während ihrer Erkundungstour durch das Schloss hatte sie in einer Gesindekammer einen kleinen Durchgang entdeckt, der auf den Wehrgang führte. Tief atmete sie salzige Meeresluft ein und ließ ihren Blick über die rauen Wellen des Atlantiks schweifen. Von hier aus sah man nichts als Himmel und Wasser, deren Grenzen am Horizont ineinander zu verschwimmen schienen. Selbst an einem bedeckten Tag wie heute wirkte der Anblick wie Balsam für die Seele. Wenn sie sich auf Zehenspitzen stellte, konnte sie einen Blick über die Brüstung werfen. Dort prallte die tosende Gischt gegen die zerklüfteten Felsen am Fuße der Steilklippe. Ein einsamer Steg ragteüber die graue Wasseroberfläche, wurde regelmäßig von sprudelnden Wogen überspült. Er wirkte so seltsam fehl am Platz, dass sie es kaum vorstellbar fand, jemals ein Schiff dort anlegen zu sehen. Möglicherweise wurde der Haushalt von dort aus mit Waren beliefert, die die Zigeuner nicht im Dorf erstehen konnten. Doch wie diese in das Schloss gelangen sollten, war ihr schleierhaft. Vielleicht gab es dort unten einen Eingang, doch aus der schwindelerregenden Höhe erkannte sie nichts dergleichen. Ein paar Möwen zogen kreischend über ihren Kopf hinweg. Der Wind zerzauste rücksichtslos ihr Haar. Sue lächelte. Ja, sie liebte diesen Ort. Für einen Moment erschien diese ungewisse Sehnsucht in ihrem Inneren leichter erträglich.
    Ebenso lastete die Trauer um ihre Tante schwer auf ihrem Gemüt, obwohl sie bei dem Gedanken an Meggie einen seltsamen Frieden empfand, seit sie auf Duart Castle weilte. Der Tod war endgültig. Bestimmt war ihre Tante nun im Himmel, irgendwo dort oben zwischen den dicken, weichen Wolken.
    Seit Tagen hatte sie nichts vom Schlossherrn gehört. Verwundert stellte sie fest, dass sie ihn vermisste. Wie auch immer er es anstellte, schien sie ihm auf eigenartige Weise verbunden zu sein. Seine galante Art, all die interessanten Dinge, die er ihr zeigte, sein Blick. Tief in ihrem Inneren keimten kleine Glücksperlchen auf. War sie etwa dabei, sich in den Lord zu verlieben?
    „Oh, Sue Beaton, sei nicht töricht. Eine einfache Magd sollte sich nicht in ihren Lehnsherrn vergucken“, sagte sie vor sich hin.
    Der Wind trug ihre Worte davon, während sie zurück zum Eingang ging. Sie verriegelte die niedrige Holztür sorgfältig und war dankbar für die Wärme im Inneren der Kammer. Möglicherweise war der Lord verreist, denn im Schloss entdeckte sie ihn nirgendwo. Zumindest was die Bereiche betraf, die sie bislang gesehen hatte. Um Duart Castle bis in den letzten Winkel zu erkunden, würde sie eine Weile brauchen. Sofern das überhaupt möglich war. Jedem Gang zweigten zahlreiche weitere ab, wie Labyrinthe verliefen sie in unergründlicher Dunkelheit. Sue mied allzu unheimliche Nischen und zog den beleuchteten Teil des Gebäudes vor. Trotzdem fühlte sie sich seltsam heimisch im Schloss, auch wenn das Fehlen von Fenstern nicht gerade zur Orientierung beitrug. Obwohl ihr Heimatdorf nicht weit entfernt war, hatte sie manchmal den Eindruck, sich in weiter Ferne zu befinden. In einem der fremden Länder, die sie sich häufig für ihre Geschichten ausgedacht hatte.
    Einzig Babu begegnete ihr hin und wieder, doch sie wich ihren Fragen aus. Nur einmal hatte ihr die Zigeunerin von dem Leichenfund im Schulhaus erzählt. Zwei Tage, nachdem Sue von dort geflohen war. Der Gedanke, dass ihre Tante das ganze Wochenende dort gelegen hatte, war kaum zu ertragen. Damit hatte der grauenhafte Schulmeister genügend Zeit gehabt, sich unbemerkt nach Oban abzusetzen. In den Highlands gab es genügend Möglichkeiten unterzutauchen, sodass letztlich Tante Meggies Mörder ungesühnt davonkommen würde. Sue schluckte den bitteren Geschmack auf der Zunge hinunter.
    Der verschlossene Gesichtsausdruck der Zigeunerin hatte wohl weniger mit Sues Nöten zu tun. Überhaupt stand er im Gegensatz zu ihrem sonst selbstbewussten Auftreten. Jedes Mal, wenn Babu wortkarg die Mahlzeiten ins Gemach brachte, rätselte Sue über den Grund ihrer Anwesenheit auf Duart Castle.
    Als Sue in den Gang abbiegen wollte, der zu ihrer Kammer führte, erweckte ein Poltern aus der entgegengesetzten Richtung ihre Aufmerksamkeit. Sue hielt inne, beschloss dann aber nachzusehen. Sie schlich an eine angelehnte Tür, aus deren Spalt Licht drang. Gedämpfte

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