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Electrica Lord des Lichts

Electrica Lord des Lichts

Titel: Electrica Lord des Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Henke
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verwirrten Geist des Jungen nicht erreichen konnte.
    Resolut stellte er sich Sean in den Weg, damit er seinen ziellosen Gang stoppte. Dabei achtete er darauf, ihn erst zu berühren, wenn er mit ihm Blickkontakt aufgenommen hatte. Doch es war zu spät. Der schlaksige Körper sank bereits vor ihm zusammen und wand sich kurz darauf wild zuckend auf dem Boden. Rollende Augen und schon trat weißer Schaum aus seinem Mund. Cayden warf sich auf den hageren Körper, griff Seans Kinn und drückte seinen Kopf auf die Seite. Es brauchte einiges an Kraft, den krampfenden Kiefer auseinander zu schieben. Ein zielsicherer Griff und Cayden hatte die in den Rachen gerutschte Zunge nach vorne gezogen. Fest drückte er die Wange des Krampfenden auf den Holzboden, damit er nicht an Erbrochenem erstickte. Jetzt konnte er nur abwarten, bis der Anfall vorüberging. So schlimm war es seit Langem nicht gewesen. Er rückte näher an den zuckenden Körper, streichelte die bebende Schulter und redete mit monotonen Worten auf ihn ein. Die einzige Möglichkeit, ihm Trost zu geben. Sean berührte etwas in ihm, das er längst vergessen hatte. Seit er ihn als kleinen Jungen im Schloss gefunden hatte, fühlte er sich für sein Wohl verantwortlich. Er empfand für ihn die Liebe eines Bruders, obwohl er in Wahrheit Seans Ur-Ur-Ur-Großonkel war.
    Die Nachricht über eine verheerende Seuche hatte ihn nach Duart Castle zurückkehren lassen. Er konnte nicht erklären, was ihn antrieb. Möglicherweise eine tief verwurzelte Bindung gegenüber seinen Nachfahren. Bei seiner Ankunft hatte die Seuche bereits ihre tödliche Spur durch die ganze Gegend gezogen. Es gab kaum Überlebende. Die Gänge im Schloss erschienen ihm heute ebenso geisterhaft verlassen wie damals, als er nach Überlebenden gesucht hatte. Im Gesindehaus fand er schließlich Sean zwischen all den Toten und denen, die es fast waren. Das kleine Gesicht starrte vor Dreck und Blut. An den feinen Kleidern erkannte er den Sohn des Lords. Der letzte Überlebende der Macleans. Die Eltern des Jungen lagen tot im oberen Ballsaal. Es gab niemanden mehr, der sich hätte um ihn kümmern können.
    Jede Leiche war sorgsam in schmutziges Leinen gewickelt. Niemals würde er den Gestank der eitrigen Blattern vergessen, den Anblick entstellter Gesichter. Der Junge hockte vor einer am Boden liegenden Frau und betupfte ihre geschwollenen, blutigen Lippen mit einem feuchten Lappen, weil sie längst nicht mehr in der Lage zu Trinken war. Überrascht von seiner Ergriffenheit, verharrte Cayden im Schatten einer Nische und beobachtete, wie Sean der Frau nach ihrem letzten Atemzug ein letztes Mal sanft über das Haar strich und ihr die Schürze über das wächserne Gesicht legte, weil es keinen anderen Stoff mehr gab. Kurz entschlossen griff er den Jungen, um ihn in Sicherheit zu bringen. Seltsamerweise hatte das Kind sich nicht gewehrt. Kein Schreien, kein Strampeln. Stattdessen lag der kleine Körper teilnahmslos über Caydens Schultern wie ein leerer Mehlsack.
    Der alte Schreiner hatte sich bereit erklärt, Sean bei sich aufzunehmen. Kurz zuvor hatte dieser Frau und Kinder an die Seuche verloren. In den folgenden Jahren sorgte Cayden mit regelmäßigen Geldbeträgen für das Wohl des Jungen. So oft es ihn nach Lochdon trieb, besuchte er Sean. Der Anfall ging so schnell vorüber, wie er eingesetzt hatte. Cayden nahm Abstand. Sean setzte sich auf und starrte ihn aus tellergroßen Augen an.
    „Sue weg“, lispelte er verzweifelt.
    „Was ist geschehen?“ Er erwartete keine Antwort, aber er zweifelte nicht eine Sekunde an Seans Verzweiflung. Der Bursche hing wie eine Klette an Sue Beaton. Seit dem Tod seines Ziehvaters besuchte sie ihn regelmäßig, half ihm bei der Hausarbeit oder war ihm schlicht eine Gesellschafterin. Cayden wusste, dass Sue Zuneigung für Sean empfand, der sich sonst keinem Menschen öffnete. Sie tat ihm gut, akzeptierte ihn, wie er war. Durch sie hatte Sean mit den Jahren gelernt, sein Leben weitgehend selbstständig zu gestalten. Es war nachvollziehbar, dass ihr Verschwinden Sean schockierte. Ihm mitzuteilen, dass Sue bei ihm in Sicherheit war, würde den Jungen noch mehr durcheinanderbringen. Er würde nicht verstehen, dass seine Freundin ihn nicht verlassen hatte.
    „Hör zu, Sean. Ich werde mich darum kümmern. Versprochen.“ Eindringend blickte Cayden ihn an, bis ein kaum merkbares Nicken ihm Seans Aufmerksamkeit bestätigte. „Du bleibst hier, bis du wieder von mir hörst.“

    Sue zog

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