Electrica Lord des Lichts
niemand sonst das Unternehmen als Fehlschlag prophezeite. „Naja, wenigstens hatten in diesen Jahren viele Hochländer eine Arbeit“, erwiderte sie.
Cayden betrachtete sie abwägend. „Und dafür wird unser guter George heute Abend auch den leitenden Ingenieur in den Adelsstand erheben.“
Bereits beim Eintreten in den festlichen Saal ereilte Sue das Gefühl, erneut eine Welt zu betreten, von deren Existenz sie allenfalls gelesen hatte. In ihren kühnsten Vorstellungen hätte sie sich nicht in eine derart gediegene Umgebung hineindenken können. Immer wieder glitten ihre Hände über den spitzenbedeckten Rock ihres Atlaskleides. Anscheinend war Babu bei der Wahl ihres Kleides von einem festlichen Anlass ausgegangen und nicht von einem einfachen Ausflug, wie Sue vermutet hatte. Sie war angemessen gekleidet, entsprach der Etikette, so viel stand fest, denn einige Kleider waren deutlich weniger kostbar als das ihre. Dennoch erschienen ihr die Blicke, mit denen sie verstohlen gemustert wurde, als stünde sie in Sackleinen inmitten dieser feinen Gesellschaft. Sie versuchte, ihre Unsicherheit zu verbergen. Vor Aufregungkonnte sie kaum atmen. Sie hielt den Kopf gerade, damit ihre Frisur nicht aus der Fasson geriet. Immer wieder huschte ihr Blick zu den Damen in ihren aufwendigen Gewändern, die sich zwanglos in der gewohnten Umgebung bewegten. Mehrere Köpfe wandten sich ihnen zu, würdigten Cayden mit einem Nicken, bevor sie Sue prüfend musterten.
Beeindruckt beobachtete sie zahlreiche Diener, die eilig zwischen den Gästen umherhuschten und die Gaslichter an den Wänden löschten. Anscheinend verfügte man im Kongresssaal über keinen solchen Mechanismus, der das Licht konstant dämmte wie in Caydens Schloss. Als nur noch Kerzenschein den Saal matt erhellte, zog eine aufgeregte Unruhe durch die Menge. Verhaltenes Flüstern und raschelnde Stoffe der Damenkleider mischten sich unter die erwartungsvolle Atmosphäre. Der Hofstaat eilte umher, bemüht, einen der möglichst besten Plätze dort zu ergattern, an denen der König möglicherweise vorbeischreiten würde. Cayden hingegen bewegte sich nicht vom Fleck, worüber Sue erleichtert war, zumal ihre Füße in den engen, hochhackigen Schuhen schon beim Stillstehen schmerzten. Er reichte ihr seinen Arm und zwinkerte ihr aufmunternd zu.
„Sollte der Saal nicht im Glanz erstrahlen, wenn seine Majestät eintritt?“, flüsterte Sue.
Cayden stieß ein leises Schnaufen aus. „Hoheits Gesundheitszustand ist angeschlagen, er leidet unter einer ausgeprägten Lichtempfindlichkeit.“ Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen, während sein Blick beobachtend über die Köpfe der Anwesenden glitt. „Audienzen oder öffentliche Auftritte wie dieser hier sind seit Jahren eine Seltenheit. Seine Majestät ist längst zu einer Karikatur seiner Selbst verblasst.“
„Das klingt nach einer bedauernswerten Tragödie.“
In ihrer Vorstellung nahm König George III. eine besondere, nahezu unwirkliche Stellung ein. Weit über dem einfachen Volk stehend, ein lebendiger Mythos, der in strahlender Rüstung mit seinem Heer über die Schlachtfelder ritt, um sein Volk vor Gefahren zu bewahren. Irgendwie unsterblich, wie ein Gott, auf jeden Fall ebenso weit entfernt. Die Gelegenheit zu bekommen, ihm leibhaftig zu begegnen, hätte sie niemals zu träumen gewagt. Es war zutiefst desillusionierend, dass der mächtigste Mann des Empires gebrechlich sein sollte, obgleich die prachtvolle Umgebung Caydens Worte Lügen strafte. Zumindest wünschte sich Sue, dass es so wäre, denn so viel war ihr inzwischen klar: Auf seine zynische Beobachtungsgabe war Verlass.
Er blickte zu ihr. „Das Leben ist vergänglich und Könige sind auch nur Menschen. Der eine geht, der nächste kommt. Es ist Georges Sohn, der sich bereits seit Jahren um die Staatsgeschäfte kümmert. Wenn auch inoffiziell. Für geschäftliche Kontakte ist es indes generell vorteilhaft, wenn man mit dem Königshaus zusammenarbeitet. Einerlei, wer gerade auf dem Thron sitzt.“
Der abwertende Unterton in seiner Stimme kam ihr seltsam vor, ging sie doch davon aus, dass die meisten Adligen dem gegenwärtigen Herrscher des Empires Hochachtung entgegenbrachten. Ehe sie etwas erwidern konnte, ertönten Fanfaren und kündigten das Eintreffen des Königs an.
Auf einmal schien jeder im Saal zu wissen, wo er sich hinzustellen hatte, sodass in Windeseile eine geordnete Parademeile entstand, flankiert vom Hofstaat des Königs und schottischen Adligen.
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