Elefanten vergessen nicht
annehmen, dass der Gatte seine Frau und dann sich erschoss. Einfach, weil es wahrscheinlicher ist. Aber warum?
So viele Jahre sind vergangen. Wenn ich manchmal in der Zeitung von Toten lese, von einem Ehepaar, das sich anscheinend gemeinsam das Leben nahm, dann erinnere ich mich und überlege, was im Fall Ravenscroft passiert sein könnte.
Zwölf oder vierzehn Jahre sind es her, und ich überlege noch immer, warum, warum, warum? Hat der Mann vielleicht seine Frau gehasst, hasste er sie schon lange Zeit? Hat die Frau vielleicht ihren Mann gehasst und wollte ihn loswerden? Haben sie sich so gehasst, dass sie es nicht mehr ertragen konnten?«
Garroway brach noch ein Stückchen Brot ab und kaute darauf herum.
»Haben Sie eine Idee, Monsieur Poirot? Ist jemand zu Ihnen gekommen und hat Ihnen etwas erzählt, das Ihr Interesse weckte? Das das ›Warum‹ erklärt?«
»Nein. Aber trotzdem«, antwortete Poirot, »müssen Sie eine Theorie gehabt haben. Erzählen Sie schon, was für eine Theorie hatten Sie?«
»Natürlich, Sie haben Recht. Man hat Theorien und man erwartet, dass sie – oder wenigstens eine davon – zutreffen, aber gewöhnlich tun sie’s nicht. Schließlich kam ich zu der Meinung, dass man das Motiv nicht finden konnte, weil man nicht genug wusste. Was wusste ich denn tatsächlich?
General Ravenscroft war fast sechzig, seine Frau fünfunddreißig. Um genau zu sein, ich kannte die letzten fünf oder sechs Jahre ihres Lebens. Der General hatte sich pensionieren lassen, und sie waren aus dem Ausland nach England zurückgekommen. Alles Beweismaterial, all mein Wissen stammte aus diesen paar Jahren. Zuerst wohnten sie in einem Haus in Bournemouth, dann zogen sie nach Overcliffe, wo sich die Tragödie ereignete. Sie hatten dort ruhig gelebt, glücklich, ihre Kinder kamen in den Ferien nachhause. Es war eine friedvolle Zeit, möchte ich sagen, am Ende eines fast friedvollen Lebens.
Es gab kein finanzielles Motiv, kein Hassmotiv, keine Liebesaffären. Nichts dergleichen. Aber die Zeit zuvor! Was wusste ich über sie? Sehr wenig. Sie hatten ihr Leben meistens im Ausland verbracht, abgesehen von gelegentlichen Besuchen in England, der Mann hatte einen einwandfreien Ruf, die Freunde der Frau berichteten nur Gutes. Es gab keine Tragödie, keine Streitereien, nichts. Aber vielleicht wusste ich nur nicht Bescheid? Da war ein Zeitraum von zwanzig – dreißig Jahren, von der Kindheit bis zur Ehe, die Zeit, die sie in Indien oder sonst wo lebten. Vielleicht lag da die Ursache zu der Tragödie? Es gibt ein Sprichwort, das meine Großmutter oft gebrauchte – Alte Sünden werfen lange Schatten. War die Todesursache so ein Schatten, ein Schatten aus der Vergangenheit? Das herauszufinden ist nicht leicht. Man kann den Lebenslauf eines Mannes überprüfen, hören, was Freunde oder Bekannte berichten, aber man kennt keine intimen Einzelheiten.
Ich glaube, allmählich setzte sich der Gedanke in meinem Kopf fest, dass da meine Nachforschungen hätten beginnen müssen, wenn es möglich gewesen wäre. Irgendetwas musste damals geschehen sein, in einem andern Land vielleicht. Ein Ereignis, das man vergessen glaubte, das längst vergangen schien, dessen Auswirkungen aber doch bis in die Gegenwart reichten. Ein Groll, ein Streit, von dem niemand wusste, eine Geschichte, die sich weiß Gott wo und wann ereignet hatte. Wenn man nur gewusst hätte, wo man hätte suchen sollen.«
»Es gehörte vielleicht zu den Dingen«, meinte Poirot, »an die sich niemand mehr erinnert – heute noch erinnert. Ihre Freunde hier in England hatten womöglich keine Ahnung.«
»Ihre Freunde in England stammten meistens aus der Zeit nach seiner Pensionierung, wenn auch hin und wieder alte Freunde sie besuchten. Aber man erfährt nicht viel über Ereignisse, die in der Vergangenheit geschehen sind. Die Menschen vergessen.«
»Ja«, antwortete Poirot gedankenvoll. »Die Menschen vergessen.«
»Sie sind nicht wie die Elefanten«, warf Chefsuperintendent Garroway mit einem kleinen Lächeln ein. »Elefanten, sagt man, vergessen nie.«
»Merkwürdig, dass Sie das sagen«, rief Poirot.
Chefsuperintendent Garroway sah Poirot etwas überrascht an. Er schien auf eine Erklärung zu warten. Auch Spence warf einen kurzen Blick auf seinen alten Freund.
»Vielleicht passierte es in Indien«, schlug er vor. »Daher kommen ja schließlich die Elefanten, nicht wahr? Oder aus Afrika. Aber wer hat Ihnen gegenüber Elefanten erwähnt?«
»Eine Freundin von mir,
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