Elefantengedaechtnis
deren Verständnis von der Gesellschaft kategorisch und schematisch war; schließlich das Lumpenproletariat der Selbstdreherinnen, die beim Klang von Pink Floyd auf dem batteriebetriebenen Plattenspieler neben der Suzuki ihrer Zufallsfreunde dahinschmolzen, junger Leute, die auf den Rücken ihrer Plastikblousons für Koni-Stoßdämpfer Reklame machten. Am Rande dieser vereinfachten Taxonomie befand sich die Mundstück-Gruppe, menopausierende Besitzerinnen von Boutiquen, Antiquariaten und Restaurants in der Alfama, die vor marokkanischen Armreifen klingelten und direkt von den Bemühungen der Schönheitsinstitute in die Arme zu junger oder zu alter Männer eilten, die ihre Melancholien und Sehnsüchte in Zweizimmerwohnungen im Stil Campo de Ourique hegten und pflegten, welche von der Stimme Leo Ferrés erfüllt und mit den Puppen von Rosa Ramalho gefüllt waren und in denen die indirekten Lampen die verbrauchten Brüste mit einem verschämten, zuträglichen Halbdunkel färbten. Du, dachte er und meinte damit seine Frau, während der Zahnarzt, eine Art sarkastischer Mephistopheles, ein ungeheures Boxringlicht auf
seine Pupillen lenkte, du, dachte er, bist der Lächerlichkeit und der Ironie immer entgangen, hinter der ich die Zärtlichkeit, für die ich mich schäme, und das Gefühl, das mich erschreckt, zu verbergen versuche, vielleicht, weil du von Anfang an gemerkt hast, daß hinter der Herausforderung, der Aggressivität, der Arroganz ein ängstlicher Ruf stand, ein blinder Schrei, der schmerzliche Blick eines Tauben, der nichts versteht und auf den Lippen der anderen die befriedenden Worte zu entziffern versucht, die er braucht. Du bist gekommen, ohne daß ich dich gerufen hatte, hast mein Leiden und meine Angst immer gestützt, wir sind auf gleicher Höhe gewachsen, haben voneinander die Gemeinsamkeit geteilter Isolation gelernt, wie damals, als ich im Regen nach Angola aufgebrochen bin und deine trockenen Augen sich wortlos von mir verabschiedet haben, dunkle Steine, die in sich so etwas wie den Saft der Liebe wahrten. Und er erinnerte sich an ihren Körper auf dem Bett an den Nachmittagen in Marimba unter den riesigen Mangobäumen voller Fledermäuse, die, an den Füßen herabhängend wie fleischfressende Regenschirme (Engel der Mäuse nannte sie eine Freundin), auf den Abend warteten, und daran, wie die älteste Tochter, die damals laufen lernte, sich an den Wänden festhaltend auf sie zustolperte. Wir halten nicht vielen Herausforderungen stand, befand der Psychiater in dem Augenblick, als der Zahnarzt ihm den Absauger in den Mundwinkel hängte, wir halten nicht vielen Herausforderungen stand und ergreifen fast immer bei der ersten Schwierigkeit die Flucht, geben uns ohne Kampf geschlagen, müde Hunde, die hinter dem Hotel im langsamen Trott des ungesättigten Hungers herumlungern. Das Geräusch des Bohrers, das sich mit Wespeningrimm näherte, holte ihn in die Realität des bevorstehenden
Schmerzes zurück, wenn dieser Mini-Black-&-Decker den Kiefer berühren würde. Der Arzt packte die Armstützen des Stuhls mit beiden Händen, spannte die Bauchmuskeln an, kniff die Augen fest zu und stellte sich wie immer angesichts von Leiden, Angst und Schlaflosigkeit das Meer vor.
Draußen schleppten sich die Straßen noch immer, einen Bürgersteig in der Sonne und den anderen im Schatten, dahin wie Humpelnde in zwei ungleichen Schuhen, und der Arzt blieb an der Tür der Praxis stehen und tastete seine schmerzende Kinnlade ab, um sich zu versichern, daß er von den Augen abwärts noch immer existierte: Seit er in Afrika gesehen hatte, wie die Augen der Krokodile im Fluß auf der Suche nach Körpern herumschwammen, die sie verloren hatten, fürchtete er, sich von sich selbst zu lösen und ohne den Ballast der Eingeweide um die blinden Paso-doble-Chopins herumzuschweben, die die Straßenecken mit ihren rheumatischen Akkordeons verstimmten. Diese Stadt, die seine war, bot ihm mit ihren Boulevards und Plätzen immer das unendlich wandelbare Gesicht einer kapriziösen Geliebten dar, das die Bäume mit ihrem Schattenkegel melancholischer Gewissensbisse verdunkelten, und es passierte ihm, daß er plötzlich vor den Neptunen der Teiche stand wie ein Betrunkener, der, wenn er sich von einer Laterne löst, unvermittelt auf das grimmige Kinn eines humorlosen Polizisten stößt, dessen kulturelle Nahrung aus den Grammatikfehlern des Gefreiten auf der Wache besteht. Alle Statuen wiesen mit dem Finger zum Meer, luden nach Indien oder
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