Elegie - Fluch der Götter
Mit der rechten, gesunden Hand griff Uschahin nach dem Knauf seines Schwertes. Er erinnerte sich daran, wie es sich anfühlte, zwischen Leben und Tod auf dem Schlachtfeld zu wandeln und die Fäden zu durchschneiden, welche die alterslosen Ellylon mit ihren unsterblichen Seelen verbanden.
Er fragte sich, wie es sich anfühlen mochte, das Leben aus dem Fleisch der Hohen Frau Cerelinde herauszuschälen.
Der Innenhof der Festung war voller verwundeter und benommener Fjel. Niemand erteilte hier noch Befehle. Uschahin stieg ab und bahnte sich mit dem Helmfutteral einen Weg durch die Menge, wobei er ihren Bitten nach Führung keine Beachtung schenkte. Es gab nichts, was er für sie tun konnte. Er war kein Militärstratege.
Innerhalb von Finsterflucht war es stiller. Die bedrückt wirkenden Wächter hatten wieder so etwas wie Ordnung hergestellt. Keine Irrlinge huschten umher, was ihn kurz innehalten ließ. Er dachte daran, sie zusammenzurufen, doch dann schüttelte er den Kopf. Dafür blieb keine Zeit.
Es musste getan werden. Es hätte schon lange getan sein sollen.
Es lag Wahnsinn darin, o ja. Sein rechter Arm schmerzte unter der Erinnerung an den Zorn des Schöpfers und die gnadenlose Grausamkeit, mit der er diesen Arm neu geschaffen und seine Sehnen und Knochen dabei zerfetzt hatte, Zoll für Zoll. Uschahin machte sich keine falschen Vorstellungen darüber, was ihn das, was er nun zu tun gedachte, kosten würde.
Aber er hegte nicht den geringsten Zweifel an der Notwendigkeit dieser Tat.
Er schritt die Gänge entlang und erreichte schließlich die Tür zu den Gemächern der Hohen Frau der Ellylon. Zwei Finsterfluchter
Wächter versuchten ihn abzuweisen. Mit einem einzigen wütenden Blick bezwang er sie.
Zur Einsicht gebracht, entriegelten sie die Tür.
Uschahin trat nach drinnen und setzte sein bitteres, verzerrtes Lächeln auf. »Hohe Frau«, begann er, doch dann verstummte er.
Über einer verborgenen Tür hing schief ein Wandbehang.
Das Zimmer war leer.
»Ihr habt mich erwartet?«, flüsterte Cerelinde. »Wieso, Fürst? Denn ich hatte selbst nicht erwartet, mich hier wiederzufinden.«
Einige Schritte vom Fuß der Treppe entfernt schaute Satoris Fluchbringer mit verwirrender Freundlichkeit zu ihr auf. »Begehrt Ihr jetzt mein Wissen, kleine Ellyl? Ich fürchte, dafür ist es zu spät.« Er winkte ihr zu. »Kommt her.«
Sie hatte nie daran gedacht, so weit zu gehen. Als sie ruhelos in ihrem Zimmer auf und ab gelaufen war, hatte sie die Gewissheit überfallen, dass sie es versuchen musste. Die Bürde, die Haomanes Verbündete dem Träger auferlegt hatten — und auch die Last, die Cerelinde auf Mearas Schultern geladen hatte –, war für beide zu schwer. Es war ungerecht, um etwas zu bitten, das man selbst nicht geben wollte.
Meara würde vielleicht versagen.
Und die Aufgabe des jungen Trägers würde ihn vielleicht vernichten.
Ihr war der Gedanke gekommen, dass möglicherweise Haomanes Plan sie hierhergeführt hatte, wo sie allein von all seinen Verbündeten den Schlüssel zur Erfüllung seiner Prophezeiung in den Händen hielt. Cerelinde kannte den Weg zu der dreiflügeligen Tür.
Aber sie hatte nicht erwartet, dass sie sich unter ihrer Berührung öffnete. Sicherlich war es eine Falle.
»Kommt.« Der Weltenspalter deutete auf den Gottestöter. »Ist es nicht das, was Ihr sucht?«
Von ihrer erhöhten Position auf der Treppe sah Cerelinde den Dolch im Feuermark pulsieren. »Ihr verspottet mich, Fürst«, sagte sie ruhig. »Auch wenn mein Leben wegen dieses Fehlers verwirkt
ist, dürft Ihr nicht von mir verlangen, dass ich mich Euch freiwillig ans Messer liefere.«
»Ich verspotte Euch nicht.« Der Schöpfer lächelte traurig; in seinen Augen lag eine schwache rote Glut. »Könnt Ihr es nicht fühlen, Tochter der Erilonde? In diesem Augenblick befindet sich der Träger unter uns. In diesem Augenblick riskiert er alles. Wagt Ihr es, weniger zu riskieren?«
»Ich habe Angst«, flüsterte Cerelinde.
»Allerdings. Aber ich habe mein Wort gegeben, dass Euch nichts geschieht.« Der Schöpfer lachte leise; es lag keinerlei Wahnsinn darin. »Ihr vertraut meinem Wort nicht, Hohe Frau der Ellylon, aber wenn ich es halte, würdet Ihr es wagen, zu dem zu werden, was Ihr verachtet? Würdet Ihr diese Bürde auf Euch nehmen, nur weil Ihr meinem dummen, unnachgiebigen Älteren Bruder gehorchen wollt?«
Sie zitterte. »Ich weiß nicht, was Ihr meint, Fürst Satoris.«
»Dann kommt und findet es heraus.«
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