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Elegie - Fluch der Götter

Elegie - Fluch der Götter

Titel: Elegie - Fluch der Götter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Carey
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vielen Zeitaltern vergossen. Eine nie verheilende Wunde. Cerelinde hob den Dolch. Die tödlichen Schneiden des Splitters glühten in seinem eigenen rötlichen Licht. »Kommt nicht näher!«
    Satoris der Drittgeborene schüttelte den Kopf. »Auf die eine oder andere Weise werdet Ihr mir das geben, was das Meine ist.« Wie früher im Mondgarten, so streckte er auch jetzt die Hand aus. »Wie lautet Eure Wahl, Tochter der Erilonde?«
    Wie damals, so lag auch jetzt keine Drohung in seiner Geste; allerdings verlangte er von Cerelinde damit, alles zu verraten, was sie kannte und liebte. Das Netzwerk des Feuermarks, das die Wände der Brunnenkammer erhellte, wurde nur allmählich blasser und enthüllte die ernste Miene des Schöpfers. Er hatte die leere Hand ausgestreckt, sein großer Brustkorb, makellos und verwundbar, befand sich vor ihr; das Fleisch leuchtete wie Obsidian im Glanz des Feuermarks. Der Gottestöter pulsierte in ihrer Hand — eine Erinnerung an den Traum der Riverlorn. An die wieder zusammengefügte Souma und das geheilte Urulat, an eine Welt, die nicht länger gespalten war.
    Würdet Ihr es wagen, zu dem zu werden, was Ihr verachtet?
    »Arahila möge mir vergeben!«, keuchte Cerelinde.
    Sie hob den Dolch so hoch wie möglich und rammte ihn in die Brust des Schöpfers.
    Mit schrecklicher Leichtigkeit sank er bis zum Griff ein. Ihre Fingerknöchel berührten das unsterbliche Fleisch des Schöpfers, das nun nicht länger unsterblich war. Er schrie auf, nur ein einziges Mal, es war ein Schrei von solchem Schrecken, solchem Schmerz und solcher Erleichterung, dass Cerelinde wusste, er würde ihr für den Rest ihrer Tage in den Ohren klingen. Einen Moment lang taumelten sie beide, waren aneinander gebunden, ihre Finger umfassten
noch immer den Griff des Gottestöters, und die Hände des Schöpfers hatten sich über die ihren gelegt.
    Cerelinde sah Dinge.
    Sie sah die Morgendämmerung der Welt und das Erscheinen der Sieben Schöpfer in ihr und verstand, dass es zugleich ein Ende und ein Anfang war: der Tod Uru-Alats und die Geburt eines gewaltigen Anderen. Sie sah die Berge entstehen und die Flüsse hervortreten. Sie beobachtete, wie die Welt grün und fruchtbar wurde. Sie sah die Schöpfer bei der Arbeit; sie sah, wie sie ihre Kinder mit Liebe und Stolz erschufen. Sie sah Satoris den Drittgeborenen, wie er allein und furchtlos durch die unterirdischen Orte schritt und mit den Drachen Zwiesprache hielt.
    Und dann sah sie nichts mehr.
    Der Griff des Gottestöters schlüpfte ihr aus der Hand. In der Brunnenkammer war der Weltenspalter auf die Knie gesunken und sackte zur Seite. Der Schatten eines Lächelns lag noch auf seinem Antlitz. In seiner Brust pulsierte der Dolch wie ein sterbender Stern.
    »So beginnt es von Neuem«, flüsterte er.
     
    Tanaros verschwendete keine Zeit damit, die leblose Gestalt des Trägers zu untersuchen. Die Rolle des Jungen war zu Ende; es war nicht mehr von Bedeutung, ob er noch lebte oder tot war. Tanaros bewegte sich rasch in dem schwachen Licht zum Rande der Kluft und begann mit dem Aufstieg.
    Wenn die Angst ihn bei seinem Weg hierher angetrieben hatte, dann gab es kein Wort mehr für das Gefühl, das ihn nun in die Höhe peitschte. Ihm war schwindlig, abgesehen davon spürte er nichts mehr; sein Körper war betäubt vom Schock. Seine Glieder bewegten sich wie selbstständig, gehorchten seinem Willen und hievten ihn über scharfkantige Felsvorsprünge, bis er endlich das obere Ende erreicht hatte.
    In den Gängen hinter den Wänden wurde es immer dunkler; die Adern des Feuermarks verblassten zu einem Zwielichtschimmer. Tanaros blieb kurz stehen, holte Luft und versuchte sich zu orientieren.

    Dann hörte er den Schrei.
    Es war ein einziger, wortloser Schrei. Er enthielt so viel Schmerz und gleichzeitig eine so große Befreiung, dass die Fundamente von Finsterflucht erzitterten. Immer weiter ertönte er, und es gab keinen Ort auf der Welt, an dem man sich vor ihm hätte verstecken können. Die Erde bebte, der Boden des Ganges hob sich knirschend. Tanaros krümmte sich unter dem Ansturm des Schreis zusammen, ging in die Knie, hielt sich die Ohren zu und weinte, ohne den Grund dafür zu kennen. Steine und Kiesel, die durch die Erschütterungen gelockert worden waren, regneten auf ihn herab.
    Obwohl es den Anschein hatte, als könnte dieser Schrei niemals enden, erstarb er schließlich doch.
    Tanaros fand sich auf den Beinen wieder, ohne sich daran erinnern zu können, dass er

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