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Elegie - Herr der Dunkelheit

Elegie - Herr der Dunkelheit

Titel: Elegie - Herr der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Carey
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zur Empfangshalle überschritt. Einen Augenblick ging sie aufrecht, dankbar, dass Pietre sie stützte, und konzentrierte sich darauf, den Kopf vor den Dienstboten hoch erhoben zu halten. Die Erleichterung über die Nachricht des Drachen machte es etwas einfacher. Es spielte jetzt keine Rolle mehr, dass der Reif sich anfühlte, als säße er zu eng um ihre Stirn. Der Soumanië drückte heiß gegen ihre Haut, und ein unnatürliches Bewusstsein regte sich inmitten ihres Kopfes – dies waren die Anzeichen der Rettung, Anzeichen dafür, dass die Bahnen geöffnet worden waren. So müde sie auch war, Lilias hatte diese Empfindungen mit Freude wahrgenommen.
    Aber von einem Schritt zum nächsten war plötzlich alles anders.
    Sie war einmal ein Kind gewesen, vor langer Zeit; ein sterbliches Kind, das Kinderspiele wie Verstecken auf dem Gut ihres Vaters in Pelmar gespielt hatte. Ihr jüngerer Bruder war aus dem Eishaus gerannt und hatte ihr die schwere Steintür ins Gesicht geschlagen. Tausend Jahre später erinnerte sie sich daran, an das Geräusch wie ein Donnerschlag, den unerwarteten Aufprall und die plötzliche Dunkelheit, und dass die Luft plötzlich zu knapp zum Atmen war.
    Genauso war es jetzt, nur schlimmer, hundertmal schlimmer. Ein rotes Licht zerbarst hinter ihren Augen, als eine Bahn mit Macht zugeschlagen wurde, an anderer Stelle aufbrach und in Abertausende kleiner, schwindender Durchgänge zerfiel. Am Brennen ihrer Handflächen erkannte sie, dass sie auf die Steinfliesen gefallen sein musste. Ihre Augen waren offen und blind. Irgendwo zog Pietre an ihrem Arm und flehte sie an, wieder aufzustehen. Seine Stimme war tränenerstickt. Ihr Bruder Tomik hatte ebenso geklungen, vor langer
Zeit, als er sie inständig gebeten hatte, sich von dem Soumanië zu trennen, nachdem sie vom Beschtanag wieder herabgestiegen war, um ihm den Stein zu zeigen. »Es ist das Geschenk eines Drachen, Lilias! Leg es zurück!«
    Lilias.
    »Calandor«, flüsterte sie.
    Es tut mir leid.
    Mit Mühe richtete sie sich so weit auf, dass sie inmitten der samtenen Flut ihrer edlen Kleider kniete, und fuhr sich mit den Händen blind über das Gesicht. Um sie herum kam Gemurmel auf – ängstlich, mitleidig, aufbegehrend. Nichts davon spielte eine Rolle. Ihr kleiner Bruder lag seit Jahrhunderten in seinem Grab, und sie hatte ihre Wahl vor langer Zeit getroffen. »Calandor, was ist im Marasoumië geschehen?«
    Malthus.
    Lilias blinzelte. Ihr Blick wurde wieder klar. Sarikas tränenüberströmtes Gesicht verschwamm vor ihren Augen, als die Dienerin vor ihr kniete und versuchte, ihr einen Kelch mit gewürztem Wein zu reichen. Dies war immer noch ihr Zuhause. Tausend Jahre lang hatte der Beschtanag ihr gehört. »Calandor.« Lilias schluckte und schmeckte Angst. »Kommt Satoris’ Heer?«
    Nein.
     
    Irgendwann in der Nacht war es plötzlich nicht mehr wichtig, dass sie ihre Reise nicht als Kameraden begonnen hatten. Bei ihrer kopflosen Flucht aus dem Wald gab es keine Gefangenen mehr und keine, die sie festhielten, sondern nur noch Verbündete, die ein Ziel verband: das Überleben.
    Hobard hatte sein Leben für sie geopfert. Für ihn , dachte Carfax ehrfurchtsvoll und wie betäubt. Er sah es wieder und wieder vor seinem inneren Auge, wie der vedasianische Ritter zu Boden ging und die dunkle Welle aus Pelz über ihn hereinbrach. Er hatte ihnen Zeit verschafft. Nicht viel, aber es hatte gereicht. Als die Wehre zur Verfolgung ansetzten, waren sie schon geflohen.
    Bäume, Bäume und Bäume – ein endloses Waldlabyrinth umgab
sie, von heftigen Regengüssen durchfeuchtet. Ein Sturm brach los. Er schlug ihnen ins Gesicht, und der Regen in ihren Augen machte sie fast blind. Stämme tauchten plötzlich aus der Dunkelheit auf, Äste griffen nach ihnen, klatschten gegen ungeschützte Haut und trafen die Pferde an den Flanken. Es wäre ihnen nicht gelungen, den Wehren zu entkommen, wäre nicht der Ellyl bei ihnen gewesen.
    Peldras griff auf die uralten Überlieferungen von Haomanes Kindern zurück, nutzte die Gaben des Schöpfers, um die Angst der Pferde zu besiegen und die Angst seiner Begleiter zu dämpfen. Über solche Künste geboten die Riverlorn, die Ersten unter den Geringeren Schöpfern. Seine Kraft verlieh ihren Herzen wieder Mut und gab den Hufen der Pferde mehr Schnelligkeit. Weiter und weiter folgten sie ihm, der schlanken Gestalt auf dem Pferderücken, die leicht silbrig zu leuchten schien und ihnen einen Pfad durch das unmögliche Dickicht

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