Elegie - Herr der Dunkelheit
Wassertropfens unterbrochen, der verstärkt klang, viel lauter, als ein gewöhnlicher Tropfen hätte sein sollen.
Tanaros öffnete die Augen.
Es war dunkel in der Höhle, aber nicht vollkommen finster. Und es roch nach Wasser, nach der Urform von Wasser, nach etwas, das sich zum Wasser so verhielt wie der Ichor des Schöpfers zu sterblichem Blut. Wie Wasser, nur süßer .
Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er es – dort, auf der anderen Seite, war ein kleiner See, und auf ihm lag ein winziger Lichtpunkt, die Spiegelung eines weit entfernten Sonnenschimmers. Tanaros nahm sein Schwert und näherte sich. Tief war diese Zisterne, unvorstellbar tief. Er beugte sich über den See und reckte den Hals, und über sich entdeckte er nun frische Furchen und Rillen, die in die Wand des Brunnenschachts geschlagen worden waren. Er kannte diese Spuren. Tief und breit, als hätte man von dem Stein wie von einem Kanten harten Brotes abgebissen. Das war das Werk von Fjeltrollkrallen. Ein Mann konnte diese Spuren nutzen, um selbst emporzuklettern, wenn er stark genug war, sich selbst bis dort oben hinaufzuziehen.
Weit, weit über ihm war der Himmel, eine blaue Scheibe, nicht größer als eine Teetasse.
Tanaros schob sein Schwert in die Scheide und streckte dann den Arm hoch in die Luft über der Zisterne. Der schmale Sonnenstrahl beleuchtete seine Hand. Er war warm auf seiner Haut, heiß und trocken. Er drehte die Hand. Nun lag das Sonnenlicht auf seiner schwieligen Handfläche. An der Unterseite war die Luft, die vom See darunter aufstieg und seine Knöchel streifte, kühler und feucht. Er konnte sie beinahe schmecken.
»Der Brunnen der Welt«, flüsterte er.
Es erschien unmöglich … und dennoch. Welches andere Wasser war so ruhig und bewegungslos? Das hier konnte nichts anderes sein als der Nabel von Urulat. Er kniete sich neben den See und beobachtete das stille Wasser. Es war verrückt, hier zu sein, und noch verrückter, hier zu verweilen. Dennoch konnte er sich nicht losreißen. Wenn das stimmte, dann war dieses Wasser hier alt. Es war schon alt gewesen, als die Welt gespalten worden war; es war alt gewesen, als die Welt erschaffen worden war. Mit äußerster Vorsicht streckte
er den Arm aus und steckte einen Finger ins Wasser, das sich nicht einmal kräuselte.
Es war kühl.
Es war nass.
Es war Wasser, und es war das Lebensblut von Urulat, von Uru-Alat, dem einstigen Weltengott. Es war die Urform des Wassers, allen Wassers, überall. Vom Schnee, der in den Bergen Stakkias fiel, von Meronins Meeren, die das trockene Land umschlossen. Vom Regen, der segensreich auf die Ebene von Curonan fiel, und von den Quellen, die in den Wäldern Pelmars hervortraten. Vom trüben Wasser des Deltas und von den schnellen Flüssen, die durch die Mittlande eilten.
Mit Mühe zog Tanaros die Hand zurück.
Ein einzelner Wassertropfen bildete sich an der Spitze seines Fingers. Schwer war er, so schwer! Mit seiner freien Hand stützte er seinen Unterarm und beobachtete, wie der Tropfen anschwoll und sich sammelte, bis er rund und voll an seiner Fingerspitze hing. Er schimmerte in dem schmalen Sonnenstrahl und spiegelte eine ganze Welt auf seiner Außenseite. Sonne und Himmel, Wasser und Stein. Während er zusah, veränderte der Tropfen seine Form und seine runde Unterseite wurde breiter. Dort, wo er an seiner Fingerspitze hing, wo seine Haut kleine Rillen bildete, wurde die Verbindung immer schmaler, bis sie nur noch ein schmales Band aus Wasser war, das sich dünn und immer dünner zog, bis es schließlich zerriss.
Der Tropfen fiel.
Ein Tropfen Wasser, der in den See fiel. Aus der Nähe betrachtet dröhnte er wie ein Gong in diesem umschlossenen Raum. Langsame, ebenmäßige Kreise breiteten sich in der Mitte zu den Seiten aus, wohlgerundet und perfekt. Während er zusah, wie sie gegen die Ufer des Sees schwappten und mit unendlicher Präzision umschlugen, steckte Tanaros sich seinen Finger in den Mund und lutschte daran.
Feuchtigkeit, die Grundform aller Feuchtigkeit durchdrang sein ausgedörrtes Gewebe.
Er hatte bis dahin nicht gewusst, wie stark sein Durst war. Aber es war genug Leben, genug Wasser , in dem dünnen Film, der an seiner
Haut haften geblieben war, um den ganzen Körper, den er dem Marasoumië entrissen hatte, zu beleben. Kraft, grün und jung, stieg in ihm auf, und er fühlte sich, als sei er neugeboren. Jede Faser seines Seins sang vor Lebendigkeit. Seit seiner Hochzeitsnacht hatte er
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