Elegie - Herr der Dunkelheit
»Ich reite als dein Gefangener nach Beschtanag.«
»So sei es.« Der Blick des Grenzwächters war fest. »Meine Hand bleibt dir in Freundschaft ausgestreckt, Stakkianer. Sie wird da sein, wenn du sie nehmen willst.«
Carfax, der seiner eigenen Stimme nicht traute, nickte nur.
FÜNFUNDZWANZIG
D ie Mauer fiel.
Es war einfach zu anstrengend, sie zu halten. Drei Tage lang hatten Haomanes Verbündete sie nun ohne Pause angegriffen. Tag und Nacht, Nacht und Tag. Niemand konnte beim Lärm der Rammböcke schlafen, die gnadenlos gegen den Granit prallten und die Risse an den Stellen suchten, an denen Lilias’ Kräfte schwanden.
Sie hatte länger ausgehalten, als sie selbst für möglich gehalten hatte. Es war keine leichte Arbeit, dieses Gestalten, und sie war weder Ellyl noch Gesandte mit Haomanes Gaben, die jenen solche Aufgaben leichter machten. Fels und Stein kämpften gegen ihren Willen und drängten danach, in ihre alte Form zurückzukehren. Wieder und wieder gaben ihre Verbindungen nach. Mit grimmiger Entschlossenheit hielt sie sie zusammen, bis die Erschöpfung sie schwach und schwindlig werden ließ und sie ihre Umgebung vergaß.
»Bitte, Gebieterin! Ihr müsst etwas trinken.«
Der kühle Rand eines Bechers berührte ihre Unterlippe. Als Lilias den Kopf mit einem Ruck hob, sah sie, dass Sarika vor ihr kniete und sie mit bittenden Augen ansah. »Süße.« Sie stützte die bebenden Hände des Mädchens mit ihren eigenen und nahm einen tiefen Schluck. Das Wasser erkämpfte sich einen kühlen Pfad in ihren leeren Bauch und täuschte kurzzeitig Sättigung vor. »Unsere Vorratslager sind noch nicht leer?«
»Wasser.« Sarika fuhr sich unwillkürlich über die Lippen. »Es ist noch Wasser da, und Viertelrationen Haferbrei für die Wachleute. Wie Ihr befohlen habt, Herrin.«
»Ja.« Lilias presste die Hand gegen die Stirn und fühlte das Gewicht
des Soumanië. »Natürlich.« Ein hohler Schlag erschütterte den Berg, als ein Rammbock zum hundertsten Mal an diesem Morgen gegen ihre Mauer prallte, und sie erschauerte. »Wo ist Gergon?«
»Er kommt sofort.« Es war Radovans Stimme, die da sprach; Radovan, dessen glühende Augen ihr einst so gefallen hatten. Nun sahen sie ihr mit dunklem Hass entgegen, und Verachtung färbte seine Stimme. »Gebieterin.« Er spuckte das Wort wie einen Schimpfnamen aus und fuhr sich mit einem dreckigen Finger über das gegliederte silberne Halsband, das ihn an sie kettete.
Sie hätte ihn längst in die Freiheit entlassen sollen, bevor all das anfing, hätte sie alle nie so eng an sich binden dürfen. Keinen von ihnen, von ihren kleinen Hübschen. Es wäre gar nicht nötig gewesen, nicht bei den guten. Wie hatte es angefangen? Ein kleines Zugeständnis gegenüber ihrer sterblichen Eitelkeit, gegenüber Stolz und Lust. Wozu diente denn die Macht, wenn nicht zu so etwas? Es gefiel ihr, von Jugend mit all ihrer vergänglichen Schönheit umgeben zu sein. Was war denn der Nutzen der Unsterblichkeit, wenn sie auf derart schlichte Genüsse verzichten sollte? Sie war eine großzügige Gebieterin. Niemand von ihnen hatte Schaden genommen, und sie konnten noch ihren Enkeln Geschichten davon erzählen.
Jetzt war es zu spät. So angespannt die Verbindung bereits war, es hätte mehr Kraft gekostet, sie zu lösen, als sie aufrechtzuerhalten. Lilias schob ihr Bedauern beiseite und schüttelte den Kopf, ungeduldig wie ein von einer Bremse gestochenes Pferd. »Gergon?«
»Dort, Gebieterin.« Sarika zeigte auf ihn, und ihre Stimme klang beruhigend.
Er sah aus wie eine Ameise, die sich den Berg heraufquälte. Sie alle sahen wie Ameisen aus. Ihre Wachleute, die Wächter des Beschtanag, die diese mächtige Mauer verteidigten. Andere Ameisen in heller Rüstung schwärmten um sie herum und wollten sie mit ihren Belagerungsmaschinen und Leitern überwinden, während die Rammböcke ohne Unterlass weiterdröhnten. Lilias lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und betrachtete ihr zerfallendes Reich. Sie erinnerte sich jetzt. Sie hatte einen hochlehnigen Stuhl hierhergestellt, auf die Terrasse der Festung Beschtanag, um genau das zu tun.
Lilias.
Calandors Stimme hallte in ihrem Kopf wider. »Nein«, sagte sie laut. »Nein.«
Ihr Wachhauptmann Gergon mühte sich den Abhang herauf, nickte dabei den hier und dort aufgestellten Bogenschützen zu, den letzten Verteidigern von Beschtanag. Es war warm, und er schwitzte, sein graues Haar lugte feucht unter seinem Helm hervor. Er nahm ihn ab, um sie zu grüßen.
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