Elegie - Herr der Dunkelheit
behauene Felsblöcke auf. Ihr kurzer Aussetzer hatte seinen Preis, diese kurze Willensanstrengung, mit der sie ihr Leben gerettet und ein anderes ausgelöscht hatte. Eine Bresche, die so breit war, dass man sie vierspännig hätte durchfahren können, war nun offen, und Haomanes Verbündete stürmten hindurch. Drei Tage lang hatte Aracus Altorus seine Truppen in Bereitschaft gehalten und auf eine solche Lücke gewartet. Jetzt schlug er ohne Zögern zu, und aus einer kleinen Spur von Ameisen wurde ein breiter Strom, dann eine Flut. Kampfeslärm wurde hörbar, und überall an der Mauer ließen die Wachleute von Beschtanag ihre Stellungen im Stich, um sich diesem Strom entgegenzustellen. Belagerungsleitern schlugen gegen ungeschützten Granit. Haomanes Verbündete erkletterten dutzendweise die Mauern, und ihre Zahl stieg ständig. Von der Terrasse der Festung rief Wachhauptmann Gergon unnütze Befehle.
»Nein«, sagte Lilias, starr vor Entsetzen. »Nein!«
Wie konnte alles so schnell zerfallen?
Sie kamen und kamen, stellten ihre Standarten am Beschtanag auf. Regenten von Pelmar, Herren von Seefeste, alte Familien aus Vedasia, und die Banner der Ellylon, hell und kühn, die noch nie auf beschtanagischem Boden gesehen worden waren. Und dort erhob sich unübersehbar die Flagge von Aracus Altorus, das tarngraue Banner der Grenzwächter von Curonan, schmucklos und schlicht.
»Nein«, flüsterte Lilias.
Jetzt, Lilias.
»Nein! Warte!« Sie tastete nach der Macht des Soumanië, streckte ihr ganzes Sein danach aus. Und zum ersten Mal fand sie nichts. Letzten Endes war sie doch nur eine Sterbliche, und ihre Kräfte hatten ihre Grenze erreicht. Radovan lag tot da, das Obstmesser in der offenen Hand, sein Herz schlug nicht mehr. Die Erde würde sich auf ihren Befehl nicht auftun und ihre Feinde verschlingen, die Wurzeln des dichten Waldes würden nicht ihr Blut trinken. Der Soumanië war tot wie Asche auf ihrer Stirn. Irgendwo weinte Sarika vor Angst; alles erschien so ungerecht so ungerecht. »Calandor, nein !«
Es ist an der Zeit, Lilias.
Sie war auf die Knie gefallen, ohne dass sie es gemerkt hatte. In einer aufkommenden Stille, die niemand außer ihr wahrnahm, flackerte etwas Helles oben am Beschtanag auf. Sonnenlicht, das auf Schuppen glänzte, auf Klauen, die in der Lage waren, ein ausgewachsenes Schaf zu packen, auf den ausgestreckten Flughäuten mächtiger Schwingen. Niemandem schien es aufzufallen. Am Fuße des Berges kämpften Haomanes Verbündete auf dem losen Schotter innerhalb der Mauer, kämpften in kleinen, wirren Gruppen, drängten weiter nach oben, eroberten einen Fußbreit Boden nach dem anderen. Wachhauptmann Gergon, von ihrer einstweiligen Sicherheit überzeugt, schritt den Hang hinab und rief seinen Bogenschützen zu, sich zurückzuziehen und die Verteidigung aufrechtzuerhalten. Alle Helligkeit der Welt, und niemand bemerkte es.
»Bitte, tu es nicht«, hauchte Lilias. »Oh Calandor!«
Oben auf dem Berg brüllte Calandor.
Es war ein Laut, der keinem anderen auf der Welt glich.
In ihm lag Feuer, aufflackerndes Feuer, das aus dem Glutofen eines Drachenherzens kam. In ihm lag die ganze Wut des Raubtiers, eines jeden Raubtiers, überall. In ihm lagen die tiefen Laute dunkler Orte, der Knochen der Erde, voll Weisheit, die aus ihrem Mark sickerte. In ihm lag Liebe, oh ja, Liebe in all ihrem selbstbewussten Bedauern, Liebe der Starken für die Schwachen, Liebe für die Bürde der Stärke und ein wahres Opfer. Und er war wie ein Trompetenschall, laut und aufbegehrend, kühn in seinem Wissen.
»Calandor«, flüsterte Lilias auf Knien und weinte.
Haomanes Verbündete wurden still und fürchteten sich.
Brüllend, das Sonnenlicht auf seinen Schuppen, den krallenbewehrten Klauen, den Flughäuten seiner Schwingen, so leuchtend, dass selbst der Feuerschwall blass wirkte, der aus der sehnigen Kehle drang, erhob sich der Drache von Beschtanag. Unter dem hellen Himmel verdunkelte ein Schatten, ein riesenhafter Schatten, den Berg.
Und nun endlich wussten Haomanes Verbündete, was Furcht bedeutete.
Lange schon bevor sie Beschtanag erreichten, hörten sie den Schlachtenlärm, und noch ein anderes, furchterregenderes Geräusch, ein Brüllen, das ihre Knochen erbeben und ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Von den vier Gefährten hatte allein der Ellyl ein solches Geräusch schon einmal gehört. Blaise sah ihn fragend an, und Peldras nickte; seine leuchtenden Augen waren dunkel und schwermütig.
»Es
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