Elegie - Herr der Dunkelheit
ein Anfall von Mitgefühl, hatte ihm das Leben gerettet. War das nun Stärke oder Schwäche?
Tanaros konnte es nicht sagen. Wenn an jenem Tag, an dem er erfahren hatte, dass Calista und Roscus ihn betrogen, auch nur etwas Mitgefühl in seinem Herzen gewesen wäre, vielleicht hätte er die Kraft gehabt, sich einfach abzuwenden. Was hatte sie zusammengeführt? Leidenschaft? Mitleid? Ihnen hatte die Kraft gefehlt, der Versuchung zu trotzen. Und doch war allein der Gedanke eine grauenhafte Vorstellung. In ihren Herzen hatten sie ihn bereits zum Hahnrei gemacht. Wären sie stärker gewesen, hätte er sein Leben lang unwissentlich eine Lüge gelebt, und die Welt wäre anders gewesen.
Ob besser, das wusste er nicht.
Nichts war einfach.
»Heerführer?« Wieder ein Tag ohne Schatten, wieder ein Tag mit einem langen Marsch. Wenn es einen Spalt in der Mauer seines Herzens gab, dann war Speros drauf und dran, einen Keil hineinzutreiben. Seit sich der Mittländer von der schweren Austrocknung erholt hatte, zeigte er erstaunliche Widerstandskraft und hatte genug Energie zurückgewonnen, um wieder selbst einen Fuß vor den anderen zu setzen; die Hilfe der Gulnagel lehnte er seither ab. Nun wandte er Tanaros sein sonnenverbranntes Gesicht zu und fragte mit sehnsüchtiger Stimme: »Wie ist sie denn eigentlich, die Hohe Frau der Ellylon?«
»Wie eine Frau«, gab Tanaros kurz angebunden zurück. »Wie eine Ellylfrau.«
»Oh.« Speros wandte den Blick nun wieder dem Wüstenboden zu und beobachtete, wie seine Füße über den Sand schlurften. Die Körner knirschten rhythmisch unter ihren Stiefeln und unter den krallenbewehrten Füßen der Gulnagel, die sich über ihre Köpfe hinweg Blicke zuwarfen. »Ich habe noch nie einen Ellyl gesehen«, sagte Speros schließlich. »Ich habe mich nur gefragt …«
»Ja.« Tanaros sog tief die Luft ein, und die Hitze der Wüste brannte in seinen Lungen. »Sie sind sehr schön. Sie ist sehr schön. Willst du wissen, wie schön?« Er erinnerte sich an Cerelinde in ihren Gemächern, an jenem Abend, als er sich von ihr verabschiedet hatte. Sie hatte wie eine Kerzenflamme geleuchtet mit ihrem blassen Haar, das wie ein Fluss über ihre juwelenbestickten Gewänder fiel, als sie sich von ihm abwandte. Geht und tötet, Tanaros Schwarzschwert! Das ist es doch, was Ihr tut! »So sehr, dass es wehtut«, sagte er hart. »So sehr, dass man Arahila bedauern möchte, weil sie, als sie uns schuf, so schlechte Arbeit leistete. Wir sind roh geformter Ton, Speros, wahrlich zweitklassig gegenüber der Schöpfung ihres Älteren Bruders. So sehr, dass man Arahila dafür verabscheuen möchte, dass sie es bei ihrem Versuch nicht besser machte, uns aber den Verstand gab, um das zu erkennen. Ist es das, was du hören wolltest?«
Speros sah ihn von der Seite an. »Nicht unbedingt, Heerführer.«
»Nun.« Tanaros musste dennoch lächeln. Die unvertraute Bewegung ließ die Haut auf seinen Lippen aufplatzen. »Du hast Uschahin Traumspinner gesehen.«
»Nein.« Speros schüttelte den Kopf. »Ich kenne nur die Geschichten.«
»Ah.« Tanaros leckte sich über die gesprungene Lippe und schmeckte Blut. »Nun, er ist ein armseliges, verzerrtes Spiegelbild, in dem man aber die Schönheit der Ellylon erkennen kann. Ich denke, du wirst ihn irgendwann schon einmal zu Gesicht bekommen. Und wenn der Traumspinner für dich nicht ellylisch genug ist, dann wirst du, wenn ich mich nicht sehr irre, genug Ellylon auf dem Schlachtfeld antreffen, und es wird dir leid tun, denn trotz ihrer schönen Hülle sind sie sehr harte Kämpfer.«
»Verstehe, Heerführer.« Für kurze Zeit war der Mittländer still. »Ich würde die Hohe Frau der Ellylon dennoch gern einmal sehen«, überlegte er. »Nur mal sehen.«
Tanaros antwortete nicht.
Speros schaute ihn wieder an. »Wird Fürst Satoris sie töten, was meint Ihr?«
»Nein.« Das Wort kam zu schnell über seine gesprungenen Lippen. Tanaros blieb stehen, rieb sich mit den Händen über das Gesicht. Es fühlte sich dreckig an, voller Sand und Schmutz. Sein Kopf schmerzte von dem anstrengenden Marsch, von Speros’ Fragen, von zu wenig Essen und zu viel Licht. Einst in Beschtanag war ihm die Sonne willkommen gewesen. Nun sehnte er sich nach dem düsteren, beruhigenden Dämmer von Finsterflucht, nach der Vertrautheit der schimmernden schwarzen Wände und Flure. Nach dem endlosen Sonnenlicht der Unbekannten Wüste hätte es ihm nichts ausgemacht, wenn er das wolkenverhangene Tal von Gorgantum
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