Elegie - Herr der Dunkelheit
Cerelinde, die darauf nicht vorbereitet gewesen war, stolperte über die Schwelle der Geheimtür und stieß den schweren Wandbehang zurück, um in ihre Gemächer zu gelangen.
Es war wunderbar still darin.
Sie setzte sich auf den Rand ihres Bettes und bemühte sich, ihren Herzschlag zu verlangsamen, erinnerte sich an das Kerzenlicht, das sich auf Vorax’ Schwertschneide gespiegelt hatte, und dachte darüber nach, wie nahe sie dem Tode gewesen war. So, dachte sie, mussten sich Krieger nach einer Schlacht fühlen – eine seltsame Mischung aus lastendem Entsetzen und Überschwänglichkeit. Meara schritt an den Wänden ihrer Gemächer entlang und sah angespannt in jede Ecke. Dort, wo sie auf den weichen Teppich trat, stieg der Geruch von Herzgras auf, wie eine geisterhafte Erinnerung an die ellylischen Weberinnen, die diese Arbeit einst geschaffen hatten.
»Es ist sicher«, erklärte sie schließlich. »Hier ist niemand.«
»Das ist gut.« Cerelinde hatte ihre Ruhe wiedergewonnen und neigte den Kopf. »Vergib mir, Meara. Vielleicht war dieses Unterfangen nicht wohlbedacht. Ich wünsche nicht, dass jemand von euch dadurch in Gefahr gerät.«
Die Irrlingsfrau warf ihr einen Blick zu. »Er hat recht, wisst Ihr. Fürst Vorax, meine ich. Ihr solltet den Heerführer in Ruhe lassen. Daraus kann nur Tod entstehen, Tod und Blut und noch mehr Irrsinn. Ihr solltet uns in Ruhe lassen. Wieso tut Ihr das nicht? Wieso musste er Euch hierherbringen?«
»Meara.« Cerelinde breitete hilflos die Hände aus. »Dazu kann ich nichts sagen. Du weißt, dass man mich hier als Geisel festhält. Es ist eine kleine Gabe, eine kleine Gefälligkeit. Du hast mich gebeten, sie mit euch zu teilen. Da ich sonst nichts geben kann, habe ich das getan.«
»Ich weiß.« Meara blieb am Fuß des Bettes stehen. »Ja, ich weiß, das habe ich getan. Wir sind die Versehrten, wir, die das wissen wollen. Sie hätten uns nicht allein lassen sollen, und sie hätten Euch nicht hierherbringen sollen. Sie hätten es besser wissen müssen. Und Ihr
hättet mir besser diese Gefälligkeit nie erwiesen, nein.« Sie kaute an ihrem Daumennagel und fragte dann abrupt: »Hohe Frau, was hättet Ihr für Fürst Vorax gesehen? Hättet Ihr ihm gezeigt, wie Urulat heute wäre, wenn er sich anders entschieden hätte?«
»Nein.« Cerelinde schüttelte den Kopf. »Ich hätte ihm einen kurzen Blick auf das Leben zeigen können, das er hätte haben können, nicht mehr als das; auf ein Leben, das schon vor langer Zeit zu Ende gegangen wäre. Mehr als das kann ich nicht sagen. Uns wird nur ein kleiner Ausblick gewährt, Meara. Es ist wirklich nur eine kleine Gabe.«
»Warum?«
Cerelinde sah die Irrlingsfrau voll Trauer und Mitleid an. »Wir sind die Riverlorn, Meara. Wir wurden an den Ufern Urulats zurückgelassen, während die Erleuchteten, jene unter seinen Kindern, die Haomane am liebsten hatte, an seiner Seite auf der höchsten Spitze Toraths leben. Aus Neugierde, aus unschuldigem Begehren entfernten sich jene von uns, die dann zu den Riverlorn wurden, zu weit von Haomanes Seite, und wir blieben hier zurück, als die Welt gespalten wurde. Diese kleine Gabe erkämpften wir uns in bitteren Stunden, als unsere Ältesten versuchten, den Schleier zu durchdringen. Was wäre gewesen, wenn wir gewissenhafter gehandelt hätten? Wenn wir während der Weltenspaltung an der Seite des Gedankenfürsten gewesen wären? Diese Gabe wurde unter uns weitergegeben. Auch wir zermürben uns immer wieder mit dem Gedanken, was hätte sein können .«
»Was seht Ihr?«, flüsterte Meara.
»Helligkeit«, lächelte Cerelinde und sah nach Westen. »Helligkeit und Freude.«
»Aha.« Meara hockte sich auf den Boden, schlang die Arme um die Knie und drückte das Kinn auf die Brust, um ihr Gesicht zu verstecken. »Ihr könnt die kleinen Was-hätte-sein-können nicht sehen.«
»Nein.« Cerelinde dachte voller Bedauern an die abertausend kleinen Was-hätte-sein-können. Was, wenn sie eingewilligt hätte, Aracus in den soliden steinernen Mauern von Seefeste zu heiraten?
Was, wenn Aracus bereit gewesen wäre, das Ehegelübde in den bewachten Hallen Meronils auszusprechen, unter dem Schutz von Ingolin dem Weisen? Was, wenn … was, wenn … sie niemals zugestimmt hätte, ihn überhaupt zu heiraten? »Ich wünschte, ich könnte es, Meara. Aber das geht nicht. Das Gewebe ist zu groß, und zu viele Fäden sind hineingewoben. Wenn man einen einzelnen herauszieht, lösen sich auch andere. Nur Haomane der
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