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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Preis-Leistungs-Verhältnis interessieren Männer immer sehr, das ist ein typisch männlicher Zug.

    »Ach, da ist ja der Arsch!« sagte Bruno in völlig verändertem, munterem Ton und zeigte auf einen jungen Mann, der gerade das Bistro betreten hatte. Er mochte etwa zweiundzwanzig sein. Er trug eine Military-Hose und ein T-Shirt mit dem Aufdruck Greenpeace, hatte einen dunklen Teint, und sein schwarzes Haar war zu kleinen Zöpfen geflochten, kurz gesagt, er war ein Anhänger der Rasta-Mode. »Tag, du Arsch«, sagte Bruno schwungvoll. »Darf ich dir meinen Bruder vorstellen? Können wir jetzt die Alte aufsuchen?« Der andere nickte wortlos; offensichtlich hatte er beschlossen, auf Provokationen nicht einzugehen. Sie ließen das Dorf hinter sich und schlugen einen Weg ein, der am Berghang entlang sanft ansteigend in Richtung Italien führte. Nachdem sie einen steilen Hügel überquert hatten, erreichten sie ein breites Tal mit bewaldeten Hängen; die Grenze war nur gut zehn Kilometer entfernt. Im Osten konnte man ein paar verschneite Gipfel erkennen. Die völlig unbewohnte Landschaft vermittelte einen Eindruck von Weite und Ruhe. »Der Arzt ist noch einmal vorbeigekommen«, erklärte der Schwarzkopf-Hippie. »Sie ist nicht transportfähig, außerdem ist sowieso nichts mehr zu machen. Das ist das Gesetz der Natur ...«, sagte er ernsthaft.
    »Hast du das gehört?« spottete Bruno. »Hast du diesen Witzbold gehört? Die >Natur<, das ist ihr Lieblingswort. Jetzt, wo sie krank ist, warten sie voller Ungeduld darauf, daß sie verreckt, wie ein Tier in seinem Bau. Das ist meine Mutter, du Arsch!« sagte er geschwollen. »Und hast du sein battle-dress gesehen?« fuhr er fort. »Die anderen sehen genauso aus, wenn nicht noch schlimmer. Zum Kotzen, sage ich dir.«
    »Wirklich eine schöne Landschaft hier ...«, entgegnete Michel zerstreut.

    Das Haus war groß und niedrig, aus unbehauenen Steinen und mit einem Dach aus Steinplatten; es befand sich in der Nähe einer Quelle. Bevor er hineinging, holte Michel einen Fotoapparat C anon Prima Mini (ZOOM 38-105 mm, 1290 Franc in der FNAC) aus der Tasche. Er drehte sich einmal um die eigene Achse, visierte sehr lange, ehe er auf den Auslöser drückte; dann folgte er den anderen.
    Außer dem Schwarzkopf-Hippie befanden sich im größten Raum noch eine unbestimmte mattblonde Kreatur, vermutlich eine Holländerin, die vor dem Kamin einen Poncho strickte, und ein älterer Hippie mit langem grauen Haar, einem ebenfalls grauen Spitzbart und dem fein geschnittenen Gesicht einer klugen Ziege. »Sie ist dort drüben ...«, sagte der Schwarzkopf- Hippie; er zog einen an die Wand genagelten Stoffvorhang zur Seite und führte sie in das Nebenzimmer.
        Michel betrachtete durchaus mit Interesse die in ihrem Bett zusammengesunkene, bräunliche Kreatur, die sie mit den Augen verfolgte, als sie den Raum betraten. Schließlich war es erst das zweitemal, daß er seine Mutter sah, und alles deutete darauf hin, daß es das letztemal sein würde. Als erstes fiel ihm auf, wie erschreckend mager sie war, sie hatte hervorstehende Backenknochen, verdrehte Arme. Sie hatte eine fahle, aschgraue Gesichtsfarbe, atmete mit Mühe und war offensichtlich am Ende; aber über der Nase, die stark gekrümmt wirkte, leuchteten ihre Augen im Halbdunkel groß und weiß. Er näherte sich vorsichtig der liegenden Gestalt. »Keine Sorge«, sagte Bruno, »sie kann nicht mehr sprechen.« Sie konnte vielleicht nicht mehr sprechen, war aber sichtlich bei Bewußtsein. Würde sie ihn wiedererkennen? Vermutlich nicht. Vielleicht würde sie ihn mit seinem Vater verwechseln; das war gut möglich; Michel wußte, daß er seinem Vater, als dieser im gleichen Alter gewesen war, sehr stark ähnelte. Und gewisse Menschen, was auch immer man von ihnen halten mag, spielen eben eine grundlegende Rolle in unserem Leben, geben ihm eine neue Wendung, teilen es eindeutig in zwei Hälften. Und für Janine, die sich in Jane hatte umtaufen lassen, gab es eine Zeit vor und eine Zeit nach Michels Vater. Bevor sie ihm begegnete, war sie im Grunde nur eine reiche, abenteuerhungrige, durchaus bürgerliche Frau gewesen; nach der Begegnung sollte sie sich stark verändern, auf geradezu katastrophale Weise. Das Wort »Begegnung« war im übrigen etwas hoch gegriffen; denn eine wirkliche Begegnung hatte es nicht gegeben. Ihre Wege hatten sich gekreuzt, sie hatten ein Kind gezeugt, und das war alles. Das Rätsel, das Marc Djerzinski in sich trug, hatte

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