Elementarteilchen
genommen, er hatte nicht geahnt, daß die Zeremonie so kurz sein würde. An der Porte de Châtillon verließ er die Ringautobahn und fand einen Parkplatz in der Rue Albert-Sorel, direkt gegenüber der Wohnung seiner Exfrau. Er brauchte nicht lange zu warten: Zehn Minuten später sah er seinen Sohn mit einem Schulranzen auf dem Rücken aus der Avenue Ernest-Reyer kommen. Er machte einen sorgenvollen Eindruck und hielt Selbstgespräche, während er näherkam. Woran mochte er wohl denken? Der Junge sei ein ziemlicher Einzelgänger, hatte Anne zu ihm gesagt; statt in der Schule mit den anderen zu Mittag zu essen, ging er lieber nach Hause und wärmte sich das Essen auf, das sie morgens für ihn bereitstellte, ehe sie das Haus verließ. Hatte er unter seiner Abwesenheit gelitten? Vermutlich, aber er hatte kein Wort darüber verloren. Die Kinder ertragen die Welt, die die Erwachsenen für sie aufgebaut haben, versuchen, sich ihr so gut wie möglich anzupassen; und anschließend bilden sie sie im allgemeinen nach. Victor erreichte die Haustür, gab den Kode ein; er war nur wenige Meter von dem Wagen entfernt, aber er sah seinen Vater nicht. Bruno legte die Hand auf den Türgriff und richtete sich auf dem Sitz auf. Die Haustür schloß sich hinter dem Kind; Bruno verharrte ein paar Sekunden regungslos, dann ließ er sich schwer auf den Sitz zurückfallen. Was sollte er seinem Sohn sagen, welche Botschaft hatte er ihm zu übermitteln? Nichts. Gar nichts. Er wußte, daß sein Leben zu Ende war, ohne dieses Ende zu begreifen. Alles blieb düster, schmerzhaft und undeutlich.
Er fuhr los und nahm die Südautobahn. Nach der Ausfahrt Antony bog er in Richtung Vauhallan ab. Die psychiatrische Klinik, die dem Erziehungsministerium unterstand, lag ein wenig außerhalb von Verrières-le-Buisson, direkt neben dem Park von Verrières; er erinnerte sich noch sehr gut an den Park. Er stellte den Wagen in der Rue Victor-Considérant ab und ging die wenigen Meter, die ihn von der eisernen Gittertür trennten, zu Fuß. Er erkannte den diensthabenden Krankenpfleger wieder und sagte: »Da bin ich wieder.«
22
ENDSTATION SAORGE
»Di e Kommunikation in der Werbung orientiert sich zu stark am jugendlichen Käufer und hat sich oft in Strategien verirrt, in denen Herablassung, Karikatur und Spott miteinander wetteifern. Um diesen Mangel an Aufmerksamkeit auszu gleichen, der unserer Gesellschaft anhaftet, ist es nötig, daß jeder Mitarbeiter unseres Verkaufsteams zu einem >Botschaf ter< der Senioren wird.«
(Corinne Mégy: Das wahre Gesicht der Senioren )
Vielleicht mußte alles so zu Ende gehen; vielleicht gab es kein anderes Mittel, keinen anderen Ausweg. Vielleicht mußte entwirrt werden, was verschlungen war, vollendet werden, was nur grob entworfen war. Und so sollte sich Djerzinski an einen Ort namens Saorge begeben, der 44° nördlicher Breite und 7° 30' östlicher Länge liegt; an einen Ort von etwas über 500 Metern über dem Meeresspiegel. In Nizza übernachtete er im Hotel Windsor, einem Hotel der gehobenen Klasse mit ziemlich stinkvornehmer Atmosphäre, das ein Zimmer besaß, das von dem mittelmäßigen Künstler Philippe Perrin gestaltet war. Am nächsten Morgen nahm er den Zug von Nizza nach Tende, eine Strecke, die für ihre Schönheit berühmt ist. Der Zug fuhr durch die nördlichen Vororte von Nizza, die sich durch von Nordafrikanern bewohnte Sozialwohnungen, Plakate für Telefonsex per Minitel und Wahlergebnisse von 60% für den Front National auszeichnen. Nach kurzem Aufenthalt in Peillon-Saint-Thècle fuhr der Zug durch einen Tunnel; als sie den Tunnel wieder verließen, entdeckte Djerzinski zu seiner Rechten im gleißenden Licht die atemberaubende Silhouette des am Berghang klebenden Dorfes Peillon. Dann fuhren sie durch das sogenannte Nizzaer Hinterland; die Leute reisten aus Chicago oder Denver an, um die Schönheit des Nizzaer Hinterlands zu bestaunen. Anschließend ging die Fahrt durch die Roya-Schlucht. Djerzinski stieg auf dem Bahnhof Fanton-Saorge aus und lief etwa eine halbe Stunde zu Fuß. Auf halbem Weg kam er durch einen Tunnel; es verkehrten keine Autos.
Dem Reiseführer zufolge, den er auf dem Flughafen Orly gekauft hatte, hatte das Dorf Saorge mit seinen hohen, terrassenförmig angelegten Häusern, die das Tal aus schwindelnder Höhe überragten, »etwas Tibetanisches«; das war gut möglich. Jedenfalls hatte seine Mutter Janine, die sich in Jane hatte umtaufen lassen, beschlossen, in diesem
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