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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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sie nie begreifen können; es war ihr nicht einmal gelungen, ihm näherzukommen. Dachte sie jetzt daran, da ihr verpfuschtes Leben dem Ende zuging? Das war gar nicht so unwahrscheinlich. Bruno ließ sich auf einen Stuhl ne- ben dem Bett fallen. »Du bist eben eine alte Schlampe ...«, sagte er in didaktischem Ton. »Du verdienst es, zu verrecken.« Michel setzte sich ihm gegenüber ans Kopfende des Bettes und zündete sich eine Zigarette an. »Du willst eingeäschert werden?« fuhr Bruno lebhaft fort. »Sobald es soweit ist, wirst du eingeäschert. Was von dir übrigbleibt, kommt in einen Topf, und jeden Morgen, wenn ich aufwache, pisse ich auf deine Asche.« Er nickte befriedigt; Jane gab einen heiseren kehligen Laut von sich. In diesem Augenblick tauchte der Schwarzkopf-Hippie wieder auf. »Wollt ihr etwas trinken?« stieß er in eisigem Ton hervor. »Was glaubst du denn, Alter!« brüllte Bruno. »Wie kann man nur so eine blöde Frage stellen! Mach schon die Pulle auf, du Arsch!« Der junge Mann ging hinaus und kam mit einer Flasche Whisky und zwei Gläsern zurück. Bruno bediente sich reichlich und nahm einen kräftigen Schluck. »Sie müssen ihn entschuldigen, er ist ein bißchen durcheinander ...«, sagte Michel mit fast unhörbarer Stimme. »So ist es«, bestätigte sein Halbbruder. »Laß uns mit unserm Schmerz allein, du Arsch.« Er leerte sein Glas mit einem Zungenschnalzen und schenkte sich nach. »Die sollten sich besser in acht nehmen, diese Idioten ...«, bemerkte er. »Sie hat ihnen alles vermacht, was sie besaß, und die wissen genau, daß die Kinder Anrecht auf den Pflichtteil des Erbes haben. Wenn wir das Testament anfechten wollten, dann würden wir garantiert damit durchkommen.« Michel schwieg, er hatte keine Lust, über dieses Thema zu sprechen. Es folgte ein ziemlich langes Schweigen. Nebenan war auch alles still; man hörte den schwachen, heiseren Atem der Sterbenden.

    »Sie wollte einfach jung bleiben, das ist alles ...«, sagte Michel nachsichtig, mit müder Stimme. »Sie hatte Lust, mit jungen Leuten zusammen zu sein und vor allen Dingen nicht mit ihren Kindern, die sie daran erinnerten, daß sie einer anderen Generation angehört. Das ist doch durchaus verständlich. Aber ich möchte jetzt gehen. Meinst du, daß sie bald stirbt?« Bruno zuckte mit den Schultern, er hatte keine Ahnung. Michel stand auf und ging in den Nebenraum; der Silberlocken-Hippie war jetzt allein und schälte Möhren aus biologischem Anbau. Michel versuchte, ihm ein paar Fragen zu stellen, um zu erfahren, was der Arzt genau gesagt hatte; aber der alte Aussteiger konnte ihm nur unklare Auskünfte geben, die nichts mit dem Thema zu tun hatten. »Sie war eine Frau mit unglaublicher Ausstrahlung ...«, sagte er und hielt dabei eine Möhre in der Hand. »Wir glauben, daß sie bereit ist, zu sterben, denn sie hat ein sehr hohes Niveau geistiger Verwirklichung erreicht.« Was sollte das bloß heißen? Aber es hatte keinen Zweck, irgendwelche Einzelheiten erfahren zu wollen. Der alte Dummkopf sprach nicht wirklich Worte aus; er begnügte sich damit, Laute von sich zu geben. Michel drehte sich ungeduldig auf dem Absatz um und ging zu Bruno. »Diese idiotischen Hippies«, sagte er, während er sich hinsetzte, »sind immer noch davon überzeugt, daß die Religion eine individuelle Angelegenheit ist, die auf Meditation, spiritueller Suche usw. basiert. Sie können einfach nicht begreifen, daß sie ganz im Gegenteil eine rein soziale Tätigkeit ist, die auf der Festlegung von Riten, Regeln und Zeremonien basiert. Auguste Comte zufolge erfüllt die Religion ausschließlich die Funktion, die Menschheit zu einem Zustand vollkommener Einheit zu führen.«
    »Komm mir bloß nicht mit Auguste Comte!« unterbrach ihn Bruno wütend. »Von dem Augenblick an, in dem man nicht mehr an das ewige Leben glaubt, kann es keine Religion mehr geben. Und wenn es die Gesellschaft ohne Religion nicht geben kann, wie du zu glauben scheinst, dann kann es auch keine Gesellschaft mehr geben. Du erinnerst mich an die Soziologen, die überzeugt davon sind, daß der Jugendkult eine in den 50er Jahren entstandene vorübergehende Mode ist, die ihren Höhepunkt im Laufe der 8oer Jahre erlebt hat usw. In Wirklichkeit hat der Mensch schon immer eine panische Angst vor dem Tod gehabt, noch nie hat er ohne panisches Entsetzen an seinen eige- nen Tod und nicht einmal an seinen eigenen körperlichen Verfall denken können. Von allen irdischen Gütern ist die

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