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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Sinnenfreuden und Schmerzen, die jeder früher oder später zu ziehen gezwungen ist, führt ab einem gewissen Alter unweigerlich zum Selbstmord. In dieser Hinsicht ist die Feststellung amüsant, daß sowohl Deleuze wie auch Debord, zwei hochangesehene Intellektuelle des ausgehenden Jahrhunderts, ohne triftigen Grund Selbstmord begangen haben, ganz einfach, weil sie die Aussicht ihres körperlichen Verfalls nicht ertragen haben. Diese Selbstmorde haben weder Erstaunen noch Kommentare ausgelöst; ganz allgemein gesehen betrachten wir heute den in hohem Alter verübten Selbstmord - bei weitem der häufigste - als etwas völlig Logisches. Auch die Reaktion der Öffentlichkeit auf einen möglichen Terroranschlag läßt sich als symptomatisches Zeichen anführen: In fast allen Fällen ist es den Leuten lieber, auf der Stelle getötet, als verstümmelt oder auch nur entstellt zu werden. Zum Teil natürlich, weil sie das Leben ein wenig leid sind; vor allem aber, weil nichts, und nicht einmal der Tod, ihnen so furchtbar vorkommt, wie ein Leben als Krüppel.

    Er bog auf der Höhe von La Chapelle-en-Serval ab. Das einfachste wäre gewesen, auf der Fahrt durch den Compiègner Wald vor einen Baum zu fahren. Er hatte ein paar Sekunden zu lange gezögert; die arme Christiane. Er hatte auch ein paar Tage zu lange gezögert, ehe er sie anrief; er wußte, daß sie mit ihrem Sohn allein in ihrer Sozialwohnung war, und stellte sich vor, wie sie in ihrem Rollstuhl in der Nähe des Telefons saß und wartete. Nichts zwang ihn, sich um einen Krüppel zu kümmern, das hatte sie gesagt, und er wußte, daß sie gestorben war, ohne ihn zu hassen. Man hatte den zertrümmerten Rollstuhl unten vor den letzten Treppenstufen in der Nähe der Briefkästen gefunden. Ihr Gesicht war angeschwollen und das Genick gebrochen. Bruno stand auf der Liste der »Personen, die im Fall eines Unfalls zu benachrichtigen sind«; sie war auf der Fahrt ins Krankenhaus gestorben.
        Der Bestattungskomplex befand sich ein wenig außerhalb von Noyon auf der Straße nach Chauny; direkt hinter Baboeuf mußte er abbiegen. Zwei Angestellte in blauem Arbeitsanzug warteten in einer weißen, überhitzten in Fertigbauweise errichteten Halle mit vielen Heizkörpern, die ein wenig wie ein Klassenraum in einer Berufsschule wirkte. Durch die Glaswände sah man die niedrigen, modernen Wohnhäuser einer Siedlung. Der noch offene Sarg ruhte auf zwei Böcken. Bruno näherte sich, sah Christianes Körper und spürte, wie er nach hinten stürzte; sein Kopf schlug hart auf den Boden. Die Angestellten halfen ihm vorsichtig auf »Weinen Sie! Sie müssen weinen! ...« beschwörte ihn der Ältere der beiden mit drängender Stimme. Er schüttelte den Kopf, er wußte, daß es ihm nicht gelingen würde. Christianes Körper würde sich nicht mehr bewegen, würde nicht mehr atmen, nicht mehr reden können. Christianes Körper würde nicht mehr lieben können, kein mögliches Schicksal wartete mehr auf diesen Körper, und das war allein seine Schuld. Diesmal waren alle Karten gemischt, alle Spiele gespielt und die letzte Runde ausgeteilt worden, und sie endete mit einer endgültigen Niederlage. Wie schon seine Eltern vor ihm, war auch er nicht zur Liebe fähig gewesen. Als schwebe er mehrere Zentimeter über dem Boden, sah er mit seltsamer Distanz aller Sinne, wie die Angestellten den Deckel mit Hilfe eines Bohrschraubers befestigten. Er folgte ihnen bis zur »Schweigemauer«, einer drei Meter hohen Mauer aus grauem Beton, in der die Grabnischen übereinander angeordnet waren; etwa die Hälfte von ihnen waren leer. Der ältere der beiden Angestellten blickte auf seinen Laufzettel und ging auf die Nische 632 zu; sein Kollege folgte ihm mit dem Sarg, den er auf einer Sackkarre vor sich herschob. Die Luft war feucht und kühl, es begann sogar zu regnen. Die Nische
    632 befand sich auf halber Höhe, etwa einen Meter fünfzig über
    dem Boden. Mit einer geübten, schwungvollen Bewegung, die nur wenige Sekunden dauerte, hoben die Angestellten den Sarg hoch und schoben ihn in die Nische. Mit einer Druckluftpistole spritzten sie schnelltrocknenden Montageschaum in die Ritzen; dann legte der ältere der beiden Angestellten Bruno das Register zum Unterzeichnen vor. Er könne, so sagte er ihm beim Weggehen, dort noch eine Weile in stiller Andacht zubringen, wenn er es wünsche.

Bruno fuhr über die Autobahn A1 zurück und erreichte gegen elf den Boulevard Périphérique. Er hatte sich einen Tag frei

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