Elementarteilchen
einbogen, tauchte eine Kreuzotter zwischen zwei Büschen vor der Friedhofsmauer auf, Bruno zielte und schleuderte den Stein mit aller Kraft. Der Stein prallte gegen die Mauer und verfehlte knapp den Kopf des Tiers.
»Die Schlangen haben auch ihren Platz in der Natur ...«, bemerkte der Silberlocken-Hippie ziemlich streng.
»Ich pisse der Natur in die Kimme, Alter! ich scheiße ihr ins Gesicht!« Bruno war schon wieder außer sich. »Die Natur, die Natur, was für eine Scheiße ... so eine Kacke!« murmelte er noch ein paar Minuten lang grob. Doch während der Sarg hinabgelassen wurde, verhielt er sich korrekt und begnügte sich damit, mit dem Kopf zu nicken und ab und zu in unterschiedlicher Weise zu glucksen, als flöße ihm das Ereignis ungewohnte Gedanken ein, die jedoch noch zu verschwommen waren, um klar ausgedrückt zu werden. Nach der Zeremonie gab Michel den beiden Männern ein gutes Trinkgeld - er vermutete, daß das so üblich
sei. Ihm blieb eine Viertelstunde, um den Zug zu erreichen; Bruno beschloß, ebenfalls zurückzufahren.
Sie trennten sich auf dem Bahnsteig in Nizza. Sie sollten sich nie wiedersehen, aber das wußten sie noch nicht.
»Fühlst du dich wohl in deiner Klinik?« fragte Michel.
»Ja, ja, kann nicht klagen, alles ganz locker, ich habe ja mein Lithium.« Bruno lächelte hinterlistig. »Ich kehre nicht sofort in die Klinik zurück, ich habe noch eine Nacht. Ich gehe in eine Nuttenbar, davon gibt es ja in Nizza genug.« Er runzelte die Stirn, sein Gesicht verfinsterte sich. »Durch das Lithium kriege ich zwar keinen mehr hoch, aber das macht nichts, das macht trotzdem Spaß.«
Michel stimmte zerstreut zu und stieg in den Zug: Er hatte einen Platz im Liegewagen reserviert.
298
Dritter Teil
Emotionale Unbegrenztheit
1
Als er wieder in Paris war, fand ereinen Brief von Desplechin vor. Laut Artikel 66 der internen Verwaltungsordnung des CNRS mußte er zwei Monate vor Ablauf seines Sabbatjahrs die Wiederaufnahme seiner Arbeit oder die Verlängerung seiner Beurlaubung beantragen. Der Brief war sehr herzlich und voller Humor, Desplechin machte ein paar ironische Bemerkungen über die Verwaltungszwänge; aber immerhin war die Frist schon vor drei Wochen abgelaufen. In einem Zustand großer Unsicherheit legte er den Brief auf seinen Schreibtisch. Seit einem Jahr besaß er die Freiheit, selbst seinen Forschungsgegenstand bestimmen zu können; und was hatte er erreicht? Letztlich so gut wie nichts. Als er seinen PC einschaltete, stellte er angewidert fest, daß er achtzig neue E-mails erhalten hatte; dabei war er nur zwei Tage verreist gewesen. Eine der Nachrichten kam aus dem Institut für Molekularbiologie in Palaiseau. Die Kollegin, die ihn vertrat, hatte ein Forschungsprogramm über die DNA der Mitochondrien gestartet; im Gegensatz zur DNA des Zellkerns schien sie keine Mechanismen zu besitzen, um den durch Radikale beschädigten Code wiederherzustellen, das war keine große Überraschung. Die Universität Ohio hatte da schon etwas Interessanteres: Ausgehend von einer Untersuchung über Hefepilze hatten sie dort nachgewiesen, daß die Arten, die sich auf sexuellem Weg vermehrten, sich langsamer weiterentwickelten als die Arten, die sich durch Klonen vermehrten; die zufallsbedingten Mutationen stellten sich also in diesem Fall als wirksamer heraus als die natürliche Auslese. Der Versuchsaufbau war amüsant und widersprach eindeutig der klassischen Hypothese von der sexuellen Vermehrung als Motor der Evolution; aber das war sowieso nur noch von anekdotischem Interesse. Sobald der genetische Code völlig entschlüsselt war (und das war nur noch eine Frage von Monaten), würde die Menschheit in der Lage sein, ihre eigene biologische Entwicklung zu steuern; dann würde sich deutlich herausstellen, was die Sexualität in Wirklichkeit ist: eine unnötige, gefährliche und regressive Funktion. Selbst wenn es gelingen sollte, das Auftreten von Mutationen zu entdecken oder gar ihre mögliche schädliche Wirkung zu ermitteln, gab es bisher nicht das geringste Anzeichen für ihre Determinierung; folglich gab es keinerlei Berechtigung dafür, in ihnen einen bestimmten, nützlichen Sinn zu sehen: In dieser Richtung mußte er weiterforschen, das war eindeutig.
Ohne all die Ordner und Bücher, die sich bisher in den Regalen gestapelt hatten, wirkte Desplechins Büro riesengroß. »So ist das nun mal ...«, sagte er mit einem kleinen Lächeln.
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