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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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»Ende des Monats werde ich pensioniert.« Djerzinski staunte nicht schlecht. Man verkehrt jahre-, manchmal jahrzehntelang mit Leuten und gewöhnt sich allmählich an, persönliche Fragen und wirklich wichtige Themen zu vermeiden; aber man gibt die Hoffnung nicht auf, später unter günstigeren Umständen genau diese Themen, diese Fragen anzusprechen; die ständig hinausgeschobene Aussicht auf eine menschlichere und umfassendere Art der Beziehungen verschwindet nie ganz, und zwar einfach deshalb, weil es nicht möglich ist, weil sich keine menschliche Beziehung mit einem für immer begrenzten, starren Rahmen begnügt. Die Aussicht auf eine »echte, tiefe« Beziehung bleibt also bestehen; sie bleibt jahre-, manchmal jahrzehntelang bestehen, bis ein endgültiges, unerwartetes Ereignis (im allgemeinen ein Todesfall) einem zu verstehen gibt, daß es zu spät ist und daß diese »echte, tiefe« Beziehung, die man sich in Gedanken ausgemalt hat, nicht zustande kommen wird, diese genausowenig wie jede andere. In den fünfzehn Jahren seines Berufslebens war Desplechin der einzige gewesen, zu dem er gern eine Beziehung hergestellt hätte, die über den Rahmen des auf unmittelbaren Nutzen gerichteten, unendlich langweiligen, rein zufälligen Nebeneinanders hinausging, aus dem die natürliche Atmosphäre des Bürolebens besteht. Nun, das war danebengegangen. Er warf einen bestürzten Blick auf die Bücherkartons, die sich auf dem Boden des Büros stapelten. »Ich glaube, wir sollten besser irgendwo einen trinken gehen ...«, schlug Desplechin vor und faßte damit sehr zutreffend die in diesem Augenblick herrschende Stimmung zusammen.

        Sie gingen am Musée d'Orsay entlang und ließen sich an einem Tisch auf der Terrasse des XIX' siècle nieder. Am Nebentisch plapperte lebhaft ein halbes Dutzend italienischer Touristen wie unschuldiges Federvieh. Djerzinski bestellte ein Bier, Desplechin einen Whisky ohne Eis.
    »Und was wollen Sie jetzt machen?«
        »Ich weiß es nicht ...«, Desplechin machte wirklich den Eindruck, als wisse er es nicht. »Reisen ... Vielleicht ein bißchen Sex-Tourismus.« Er lächelte; sein Gesicht hatte noch sehr viel Charme, wenn er lächelte; ernüchterten Charme zwar, denn man hatte es sichtlich mit einem Mann zu tun, der innerlich zerstört war, aber trotzdem echten Charme. »Das war nur ein Scherz ... In Wirklichkeit interessiert mich das überhaupt nicht mehr. Das Wissen, ja ... Es bleibt eben noch der Wissensdrang. Der Wissensdrang, das ist eine seltsame Sache ... Es gibt nur sehr wenige Leute, die ihn besitzen, selbst unter den Forschern; die meisten begnügen sich damit, Karriere zu machen, und geben sich bald nur noch mit Verwaltungsarbeit ab; dabei spielt das für die Geschichte der Menschheit eine unglaublich große Rolle. Man könnte sich eine Fabel ausdenken, in der eine ganz kleine Gruppe von Leuten - höchstens ein paar hundert Menschen auf dem ganzen Erdball - mit verbissener Hartnäckigkeit eine sehr schwierige, sehr abstrakte, dem Nichteingeweihten völlig unverständliche Tätigkeit verrichten. Diese Menschen bleiben der übrigen Bevölkerung für immer unbekannt; sie gelangen weder zu Macht noch zu Reichtum und werden nicht einmal mit Ehren überhäuft; niemand ist überhaupt in der Lage, das Vergnügen zu begreifen, das ihnen ihre Tätigkeit bereitet. Und doch sind sie die wichtigste Macht der Welt, und zwar aus einem einfachen Grund, einem ganz einfachen Grund: Sie haben die Schlüssel zur rationalen Gewißheit in der Hand. Alles, was sie als wahr erklären, wird früher oder später von der gesamten Bevölkerung als wahr anerkannt. Keine wirtschaftliche, politische, soziale oder religiöse Macht ist in der Lage, sich der offenkundigen rationalen Gewißheit zu widersetzen. Gewiß hat sich die westliche Welt über alle Maßen für Philosophie und Politik interessiert und sich in geradezu unsinniger Weise um philosophische und politische Fragen gestritten; gewiß hat die westliche Welt auch eine wahre Leidenschaft für Literatur und Kunst entwickelt; aber nichts in ihrer ganzen Geschichte hat eine solche Bedeutung gehabt wie das Bedürfnis nach rationaler Gewißheit. Diesem Bedürfnis nach rationaler Gewißheit hat die westliche Welt schließlich alles geopfert: ihre Religion, ihr Glück, ihre Hoffnungen und letztlich ihr Leben. Das ist etwas, was man nicht vergessen darf, wenn man ein Gesamturteil über die westliche Zivilisation abgeben will.« Er verstummte

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