Elementarteilchen
wichtig, den Tränen freien Lauf zu lassen, alles andere hilft nichts. »Dabei haben wir uns so gut verstanden, als wir zwölf waren ...«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme.
Dann blickte sie zu ihm auf. Ihr Gesicht war rein und außerordentlich schön. Sie sprach, ohne nachzudenken: »Mach mir ein Kind. Ich brauche jemanden in meiner Nähe. Du brauchst es weder aufzuziehen noch anzuerkennen, und du brauchst dich auch nicht um das Kind zu kümmern. Ich erwarte nicht einmal von dir, daß du es liebst oder daß du mich liebst; aber mach mir einfach ein Kind. Ich weiß, daß ich schon vierzig bin, das Risiko nehme ich in Kauf. Das ist jetzt meine letzte Chance. Manchmal bedauere ich es, daß ich abgetrieben habe. Und dabei war der erste Mann, von dem ich schwanger war, ein Arschloch und der zweite ein völlig verantwortungsloser Kerl; als ich siebzehn war, hätte ich mir nie vorstellen können, daß das Leben so beschränkt ist, so wenige Möglichkeiten bietet.«
Michel zündete sich eine Zigarette an, um nachzudenken. »Das ist eine seltsame Idee ...«, sagte er, ohne die Lippen zu bewegen. »Eine seltsame Idee, sich fortzupflanzen, wenn man das Leben nicht liebt.« Annabelle stand auf und zog sich langsam aus. »Laß uns wenigstens miteinander schlafen«, sagte sie. »Das haben wir schon seit einem Monat nicht mehr getan. Vor zwei Wochen habe ich aufgehört, die Pille zu nehmen; es sind gerade meine fruchtbaren Tage.« Sie legte die Hände auf ihren Bauch, schob sie bis zu ihren Brüsten hinauf und spreizte leicht die Schenkel. Sie war schön, begehrenswert und liebevoll; warum empfand er nichts? Das war unerklärlich. Er zündete sich eine weitere Zigarette an und begriff plötzlich, daß er mit Nachdenken nicht weiterkam. Entweder zeugt man ein Kind oder man zeugt es nicht; das hat nichts mit einer rationalen Entscheidung zu tun, das gehört nicht zu den Entscheidungen, die ein Mensch auf rationale Weise treffen kann. Er drückte seine Kippe im Aschenbecher aus und murmelte: »Einverstanden.«
Annabelle half ihm, sich auszuziehen, und masturbierte ihn sanft, damit er in sie eindringen konnte. Er spürte kaum etwas, außer der sanften Wärme ihrer Scheide. Überrascht von der geometrischen Evidenz der Begattung und entzückt über die geschmeidige Anpassungsfähigkeit der Schleimhäute hörte er bald auf, sich zu bewegen. Annabelle küßte ihn auf den Mund und schlang die Arme um ihn. Er schloß die Augen, spürte die Existenz seines Glieds viel deutlicher, und begann sich wieder auf und ab zu bewegen. Kurz bevor er ejakulierte, hatte er die unglaublich deutliche Vision vom Verschmelzen der Geschlechts- zellen und gleich darauf die Vision von den ersten Zellteilungen. Es war wie eine Flucht nach vorn, ein kleiner Selbstmord. Eine Welle des Bewußtseins durchlief sein Glied, er spürte, wie sein Samen aus ihm herausgeschleudert wurde. Annabelle spürte es ebenfalls und stieß einen tiefen Seufzer aus; dann blieben sie regungslos liegen.
»Sie sollten sich schon vor einem Monat einen Termin für einen Abstrich geben lassen ...«, sagte der Gynäkologe mit müder Stimme. »Und statt dessen setzen Sie die Pille ab, ohne mit mir darüber zu sprechen, und dann stürzen Sie sich Hals über Kopf in eine Schwangerschaft. Sie sind doch kein kleines Mädchen mehr! ...« Die Atmosphäre in der Praxis war kalt und beinah klebrig; Annabelle war überrascht, die Junisonne wiederzusehen, als sie draußen war.
Am folgenden Tag rief sie den Arzt an. Die Zelluntersuchung hatte »ziemlich ernstzunehmende« Anomalien ergeben; es mußten eine Biopsie und eine Ausschabung der Gebärmutter gemacht werden. »Und was die Schwangerschaft angeht, das schlagen Sie sich erst mal aus dem Kopf. So etwas sollte man besser auf einer soliden Basis beginnen, nicht wahr? ...« Er machte keinen besorgten Eindruck, schien nur etwas verärgert zu sein.
Annabelle erlebte also ihre dritte Abtreibung - der Fötus war erst zwei Wochen alt, eine einfache Saugkürettage würde also reichen. Die Apparaturen waren seit ihrem letzten Eingriff um einiges weiterentwickelt worden, und zu ihrer großen Überraschung war alles nach kaum zehn Minuten vorbei. Die Ergebnisse der medizinischen Untersuchungen trafen drei Tage später ein. »Also ...«, der Arzt wirkte auf einmal furchtbar alt, kompetent und traurig, »es besteht wohl leider kein Zweifel: Gebärmutterkrebs im fortgeschrittenen Stadium.« Er rückte seine
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