Elementarteilchen
sehr sanft geworden, ein bißchen seltsam, und lachte oft ohne Grund; manchmal füllten sich ihre Augen auch plötzlich mit Tränen. Dann nahm sie eine weitere Tercian-Tablette.
Ab der dritten Woche konnte sie kurze Spaziergänge am Fluß oder in die benachbarten Wälder machen. Es war ein außerordentlich schöner August; ein Tag strahlender als der andere, ohne daß jemals ein Gewitter drohte, aber auch ohne das geringste Anzeichen dafür, daß ein Ende nahte. Michel nahm sie an der Hand; sie setzten sich oft auf eine Bank am Ufer des Grand Morin. Die Gräser auf der Uferböschung waren verdorrt, fast weiß; der Fluß schlängelte sich endlos dunkelgrün unter den Buchen dahin. Die äußere Welt besaß ihre eigenen Gesetze, und diese Gesetze waren nicht die der Menschen.
3
Am 25. August ergab eine Kontrolluntersuchung, daß sich im Unterleib Metastasen gebildet hatten, sie würden sich sehr wahrscheinlich weiter ausbreiten, und der Krebs würde auf andere Organe übergreifen. Man könne es mit einer Strahlentherapie versuchen, ehrlich gesagt, sei das sogar das einzige, was man tun könne; allerdings müsse man dazusagen, daß es eine ziemlich schwer verträgliche Behandlung sei und die Heilungsquote bei unter 50 % liege.
Beim Essen wurde kaum gesprochen. »Du wirst bestimmt wieder gesund, mein Schatz ...«, sagte Annabelles Mutter mit leicht zitternder Stimme. Sie schlang ihrer Mutter den Arm um den Hals und legte ihre Stirn an die ihre; so verharrten sie etwa eine Minute. Nachdem ihre Mutter schlafen gegangen war, blieb sie noch eine Weile im Wohnzimmer und blätterte ein paar Bücher durch. Michel saß in einem Sessel und folgte ihr mit den Augen. »Wir könnten einen anderen Arzt befragen ...«, sagte er nach langem Schweigen. »Ja, das könnten wir«, erwiderte sie unbeschwert.
Sie konnte nicht mit ihm schlafen, die Wunde war noch nicht verheilt und zu schmerzhaft; aber sie drückte ihn lange an sich. Sie hörte, wie er in der Stille mit den Zähnen knirschte. Irgendwann strich sie ihm mit der Hand über das Gesicht und stellte fest, daß es feucht vor Tränen war. Sie streichelte sanft sein Glied, das erregte und besänftigte ihn zugleich. Er nahm zwei Valium und schlief schließlich ein.
Gegen drei Uhr morgens stand sie auf, schlüpfte in ihren Morgenrock und ging in die Küche. Nachdem sie eine Weile im Küchenschrank gesucht hatte, fand sie die Trinkschale, die ihren Vornamen trug und die ihr die Patentante zu ihrem zehnten Geburtstag geschenkt hatte. In der Schale zerkleinerte sie sorgfältig den Inhalt des Rohypnol-Röhrchens und fügte ein wenig Wasser und Zucker hinzu. Sie spürte nichts, war nur von einer ganz allgemeinen, fast metaphysischen Traurigkeit erfüllt. So war das Leben eben, dachte sie; eine Abzweigung hatte sich in ihrem Körper gebildet, eine unvorhersehbare und ungerechtfertigte Abzweigung; und jetzt konnte ihr Körper keine Quelle des Glücks und der Freude mehr sein. Im Gegenteil, er würde allmählich, im Grunde aber ziemlich schnell, für sie selbst und die anderen zu einer Quelle der Befangenheit und des Unglücks werden. Folglich mußte sie ihren Körper vernichten. Eine hölzerne, mächtige Standuhr tickte laut; ihre Mutter hatte sie von ihrer Großmutter geerbt, sie besaß sie bereits bei ihrer Hochzeit, es war das älteste Möbelstück im Haus. Sie gab noch etwas Zukker in die Schale hinzu. Ihre Haltung war durchaus nicht schicksalsergeben, das Leben kam ihr wie ein schlechter Scherz, ein unzulässiger Scherz vor; aber unzulässig oder nicht, so war das nun mal. Innerhalb der wenigen Wochen, die ihre Krankheit gedauert hatte, war sie überraschend schnell zu jener Einstellung gekommen, die unter alten Leuten weit verbreitet ist: Sie wollte den anderen nicht zur Last fallen. Gegen Ende ihrer Jugend hatte sich ihr Leben plötzlich stark beschleunigt; dann hatte es eine lange Zeit der Langeweile gegeben; und zum Schluß ging alles wieder sehr schnell.
Als sich Michel kurz vor Tagesanbruch im Bett umdrehte, stellte er fest, daß Annabelle nicht neben ihm lag. Er zog sich an und ging hinab: Ihr lebloser Körper lag im Wohnzimmer auf dem Sofa. Neben sich auf dem Tisch hatte sie einen Brief hinterlassen. Der erste Satz lautete: »Ich ziehe es vor, im Kreis jener zu sterben, die ich liebe.«
Der Oberarzt der Unfallstation im Krankenhaus von Meaux war ein Mann von Mitte Dreißig mit braunen Locken und offenem Gesicht; er machte gleich einen
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