Elementarteilchen
Brille auf der Nase zurecht und sah sich wieder die Papiere an, die vor ihm lagen; der Eindruck allgemeiner Kompetenz wurde dadurch deutlich verstärkt. Er war nicht wirklich überrascht: Der Gebärmutterkrebs befällt häufig Frauen kurz vor den Wechseljahren, und die Tatsache, daß sie keine Kinder bekommen hatte, kam noch als erschwerender Faktor hinzu. Die Art der Behandlung war bekannt, darüber gab es keinen Zweifel. »Es muß eine abdominale Hysterektomie sowie eine beidseitige Ovariektomie vorgenommen werden. Das sind chirurgische Eingriffe, die heutzutage ziemlich gängig sind, das Risiko, daß Komplikationen auftreten, ist praktisch gleich null.« Er warf einen Blick auf Annabelle: Es war ärgerlich, daß sie nicht reagierte, sie saß nur da und starrte ihn mit offenem Mund an; das war vermutlich der Auftakt zu einer Krise. Man empfahl den praktischen Ärzten im allgemeinen, den Patientinnen eine psychotherapeutische Behandlung zur Unterstützung nahezulegen - er hatte eine Liste mit Adressen vorbereitet - und vor allem, einen wesentlichen Punkt mit ihnen anzusprechen: Das Ende der Fruchtbarkeit bedeute in keiner Weise, daß damit auch das Sexualleben zu Ende sei; im Gegenteil, bei manchen Patientinnen habe sich sogar das sexuelle Begehren viel stärker entwickelt ... »Also, man nimmt mir die Gebärmutter heraus ...«, sagte sie ungläubig.
»Die Gebärmutter, die Eierstöcke und die Eileiter; es ist besser, man vermeidet von vornherein jede Gefahr der Metastasenbildung. Ich werde Ihnen zur Substitution eine Hormonbehandlung verschreiben - übrigens verschreibt man die immer öfter, selbst beim einfachen Übergang in die Wechseljahre.«
Sie kehrte zu ihren Eltern nach Crécy-en-Brie zurück; die Operation wurde für den 17. Juli angesetzt. Michel begleitete sie gemeinsam mit ihrer Mutter zum Krankenhaus nach Meaux. Sie hatte keine Angst. Der chirurgische Eingriff dauerte etwas über zwei Stunden. Annabelle wachte am nächsten Tag auf. Durch das Fenster sah sie den blauen Himmel, die leichte Bewegung des Winds in den Bäumen. Sie spürte praktisch nichts. Sie hätte gern die Wunde auf ihrem Unterleib gesehen, wagte es aber nicht, die Krankenschwester darum zu bitten. Der Gedanke, daß sie noch dieselbe Frau war, obgleich man ihr die Fortpflanzungsorgane herausgenommen hatte, war seltsam. Der Begriff »operative Entfernung« schwirrte ihr eine Zeitlang durch den Kopf, ehe er durch ein brutaleres Bild ersetzt wurde. »Man hat mich ausgenommen«, sagte sie zu sich selbst. »Man hat mich ausgenommen wie ein Huhn.«
Eine Woche später konnte sie das Krankenhaus verlassen. Michel hatte an Walcott geschrieben, um ihm mitzuteilen, daß sich seine Abreise noch etwas verzögerte; nach einigem Hin und Her willigte er schließlich ein, bei ihren Eltern zu wohnen, im ehemaligen Zimmer ihres Bruders. Annabelle stellte fest, daß er sich während ihres Krankenhausaufenthalts mit ihrer Mutter angefreundet hatte. Auch ihr älterer Bruder schaute häufiger bei ihnen herein, seit Michel da war. Sie hatten sich im Grunde nicht viel zu sagen: Michel hatte keine Ahnung von den Problemen in der kleinen Firma, und Jean-Pierre waren die Fragen, die die Weiterentwicklung der Forschung in der Molekularbiologie aufwarf, völlig fremd; dennoch entwickelte sich schließlich eine teilweise gespielte Männerfreundschaft beim abendlichen Aperitif. Sie mußte sich ausruhen und durfte vor allem keine schweren Gegenstände aufheben; aber sie konnte sich jetzt allein waschen und normal essen. Nachmittags setzte sie sich in den Garten; Michel und ihre Mutter pflückten Erdbeeren oder Mirabellen. Es war eine seltsame Zeit, die sie an die Ferien oder die Rückkehr in die Kindheit denken ließ. Sie spürte, wie die Sonne ihr Gesicht und ihre Arme liebkoste. Die meiste Zeit tat sie nichts; manchmal stickte sie auch oder stellte kleine Stofftiere für ihren Neffen und ihre Nichten her. Ein Psychiater aus Meaux hatte ihr Schlaftabletten und ziemlich starke Beruhigungsmittel verschrieben. Sie schlief sowieso sehr viel, und ihre Träume waren gleichbleibend glücklich und friedlich; der Geist verfügt über eine große Macht, solange er sein Reich nicht verläßt. Michel lag an ihrer Seite im Bett; er hatte seine Hand auf ihre Hüfte gelegt und spürte, wie sich ihre Rippen regelmäßig hoben und senkten. Der Psychiater besuchte sie regelmäßig, war beunruhigt, murmelte vor sich hin und sprach von »Verlust des Realitätsbewußtseins«. Sie war
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