Elementarteilchen
ausgezeichneten Eindruck auf sie. Die Chancen, daß sie wieder aufwache, seien gering, sagte er; sie könnten bei ihr bleiben, er persönlich habe nichts dagegen. Das Koma sei ein seltsamer, noch nicht genügend erforschter Zustand. Er sei sich ziemlich sicher, daß Annabelle ihre Anwesenheit in keiner Weise wahrnehme; dennoch seien im Gehirn noch leichte elektrische Ströme meßbar; sie entsprächen wohl einer geistigen Tätigkeit, deren Natur ein völliges Rätsel sei. Eine medizinische Prognose könne nicht mit Gewißheit gestellt werden: Man habe schon Fälle gesehen, in denen ein Kranker, der mehrere Wochen, ja mehrere Monate in tiefem Koma gelegen hat, plötzlich wieder aufgewacht sei; meistens führe das Koma jedoch leider ebenso plötzlich zum Tod. Sie sei erst vierzig, daher könne man wenigstens davon ausgehen, daß ihr Herz kräftig genug sei; das sei alles, was er im Moment dazu sagen könne.
Der Himmel über der Stadt wurde allmählich hell. Annabelles Bruder, der neben Michel saß, schüttelte murmelnd den Kopf. »Das ist doch nicht möglich ... Das ist doch nicht möglich ...«, sagte er immer wieder, als übten diese Worte irgendeine geheime Macht aus. Doch, es war möglich. Alles ist möglich. Eine Krankenschwester kam an ihnen vorbei und schob einen Rollwagen vor sich her, auf dem Infusionsfläschchen aneinanderschlugen.
Kurz darauf zerriß die Sonne die Wolkendecke, und der Himmel wurde blau. Der Tag würde genauso schön werden wie die vorangegangenen. Annabelles Mutter stand mühsam auf. »Etwas Ruhe dürfte nicht schaden ...«, sagte sie und unterdrückte das Zittern in ihrer Stimme. Ihr Sohn stand ebenfalls auf und ging mit hängenden Armen wie ein Roboter hinter ihr her. Mit einer Kopfbewegung deutete Michel an, daß er sie nicht begleitete. Er spürte keinerlei Müdigkeit. In den darauffolgenden Minuten spürte er vor allem die seltsame Präsenz der beobachtbaren Welt. Er saß allein auf einem sonnigen Flur auf einem geflochtenen Plastikstuhl. Dieser Flügel des Krankenhauses war außerordentlich ruhig. Ab und zu öffnete sich eine automatische Tür, eine Krankenschwester kam heraus und ging in einen anderen Flur. Die Geräusche aus der Stadt, ein paar Stockwerke tiefer, waren sehr gedämpft. In einem Zustand völliger geistiger Losgelöstheit führte er sich die Verknüpfung der Umstände, die Etappen des Mechanismus vor Augen, der ihre Leben zerstört hatte. Alles erschien unausweichlich, klar und unwiderlegbar. Alles erschien in der regungslosen Offenkundigkeit einer begrenzten Vergangenheit. Es war kaum anzunehmen, daß ein siebzehnjähriges Mädchen heute soviel Naivität zeigte; es war vor allem kaum anzunehmen, daß ein siebzehnjähriges Mädchen heute der Liebe eine solche Bedeutung beimaß. Seit Annabelles Jugend waren fünfundzwanzig Jahre vergangen, und vieles hatte sich verändert, wenn man den Umfragen und den Zeitschriften Glauben schenken durfte. Die Mädchen von heute waren besonnener und rationaler. Sie waren vor allem auf ihren schulischen Erfolg bedacht und darum bemüht, sich eine solide berufliche Zukunft zu sichern. Wenn sie mit einem Jungen ausgingen, war das für sie nur eine Freizeitbeschäftigung, ein Vergnügen, bei dem die sexuelle Lust und die narzißtische Befriedigung etwa zu gleichen Teilen auf ihre Kosten kamen. Anschließend bemühten sie sich darum, auf der Grundlage einer möglichst adäquaten beruflichen und gesellschaftlichen Position und einer gewissen Gemeinsamkeit der Interessen eine Ehe zu schließen, die rationalen Kriterien gerecht wurde. Natürlich verschlossen sie sich dadurch jeder Möglichkeit des Glücks - da dieses untrennbar mit Zuständen regressiver Verschmelzung verbunden ist, die mit dem praktischen Gebrauch der Vernunft unvereinbar sind -, aber sie hofften, auf diese Weise dem sentimentalen, moralischen Schmerz zu entgehen, der ihre Vorgän- gerinnen so gequält hatte. Diese Hoffnung wurde im übrigen bald enttäuscht; das Verschwinden der emotionalen Qualen bereitete in Wirklichkeit der Langeweile, dem Gefühl der Leere und dem ängstlichen Warten auf Alter und Tod das Feld. Und so war der zweite Teil von Annabelles Leben viel trauriger und trübseliger gewesen als der erste; sie sollte gegen Ende ihres Lebens keinerlei Erinnerung daran behalten.
Gegen Mittag öffnete Michel die Tür zu ihrem Zimmer. Sie atmete sehr schwach, das Laken, das ihre Brust bedeckte, bewegte sich kaum - dem Arzt zufolge reichte das jedoch
Weitere Kostenlose Bücher