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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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kleinen furchtsamen, dicken Jungen, von dem er noch Fotos besaß. Und es gab einen Zusammenhang zwischen diesem kleinen Jungen und dem von Begierde ver- zehrten Erwachsenen, zu dem er geworden war. Seine Kindheit war traurig gewesen, seine Jugend grauenhaft; inzwischen war er zweiundvierzig und objektiv gesehen noch weit vom Tod entfernt. Was hatte das Leben ihm noch zu bieten? Vielleicht ab und zu etwas oralen Sex, für den er, wie er wußte, immer bereitwilliger bezahlen würde. Ein Leben, das einem Ziel entgegenstrebt, läßt wenig Platz für Erinnerungen. In dem Maße, wie seine Erektionen immer schwieriger und kürzer wurden, überließ sich Bruno einer betrübten Entspannung. Das Hauptziel seines Lebens war sexueller Art gewesen - sich ein anderes Ziel zu setzen, war nicht mehr möglich, das wußte er jetzt. Darin war Bruno charakteristisch für seine Epoche. Während seiner Jugend hatte der erbitterte wirtschaftliche Konkurrenzkampf, dem die französische Gesellschaft seit etwa zweihundert Jahren ausgesetzt war, etwas nachgelassen. In der gesellschaftlichen Vorstellungswelt verbreitete sich zunehmend die Ansicht, daß die wirtschaftlichen Bedingungen auf ganz natürliche Art zu einer gewissen Gleichheit führen müßten. Sowohl von Politikern wie von seiten der Unternehmer wurde häufig das Modell der schwedischen Sozialdemokratie zitiert. Bruno sah sich daher kaum ermutigt, seine Zeitgenossen durch wirtschaftlichen Erfolg zu übertreffen. In beruflicher Hinsicht bestand sein einziges - durchaus angemessenes - Ziel darin, in dieser »großen, nicht sehr scharf abgegrenzten Mittelschicht« aufzugehen, die Präsident Giscard d'Estaing später beschrieben hat. Aber der Mensch läßt sich schnell dazu verleiten, Hierarchien aufzubauen und strebt unter großem Einsatz danach, sich seinen Mitmenschen überlegen zu fühlen. Dänemark und Schweden, die den europäischen Demokratien auf dem Weg zur wirtschaftlichen Angleichung als Vorbild dienten, standen ebenfalls Pate, was die sexuelle Freiheit betraf. Völlig unerwartet ergab sich innerhalb der Mittelschicht, zu der auch allmählich die Arbeiter und Angestellten gezählt wurden - oder genauer gesagt, der Generation der Kinder dieser Mittelschicht -, ein neues Feld für den narziß- tischen Konkurrenzkampf. Während eines Sprachaufenthalts, den Bruno im Juli 1972 in Traunstein, einer kleinen bayrischen Stadt in der Nähe der österreichischen Grenze, verbrachte, gelang es Patrick Castelli, einem anderen jungen Franzosen seiner Gruppe, innerhalb von drei Wochen siebenunddreißig Mädchen flachzulegen. Im gleichen Zeitraum erzielte Bruno eine Trefferquote von Null. Er zeigte schließlich seinen Schwanz einer Verkäuferin im Supermarkt - die zum Glück in Gelächter ausbrach und darauf verzichtete, ihn anzuzeigen. Wie er selbst, stammte Patrick Castelli aus einer gutbürgerlichen Familie und kam gut in der Schule zurecht; ihre wirtschaftlichen Aussichten waren durchaus vergleichbar. Die meisten Jugenderinnerungen, die Bruno besaß, waren ähnlicher Art.
        Später führte die Globalisierung der Wirtschaft zu einem viel härteren Konkurrenzkampf, der den Traum der gesamten Bevölkerung, sich in eine vereinheitlichte Mittelschicht mit regelmäßig steigender Kaufkraft einzugliedern, zerstörte; immer breitere Bevölkerungsschichten glitten ab in wirtschaftliche Unsicherheit und Arbeitslosigkeit. Der erbitterte sexuelle Konkurrenzkampf wurde dadurch allerdings nicht schwächer, ganz im Gegenteil.

    Inzwischen kannte Bruno Michel seit fünfundzwanzig Jahren. Während dieses erschreckend langen Zeitraums hatte er den Eindruck, sich kaum verändert zu haben; die Hypothese eines persönlichen Identitätskerns, eines Kerns, dessen wesentlichen Merkmale unveränderbar waren, schien ihm unwiderlegbar zu sein. Und doch waren große Teile seiner eigenen Geschichte endgültig in Vergessenheit geraten. Von ganzen Monaten, ganzen Jahren hatte er das Gefühl, als habe er sie nicht erlebt. Auf seine letzten beiden Jugendjahre, die so reich an Erinnerungen und prägenden Erfahrungen waren, traf das allerdings nicht zu. Die Erinnerung eines menschlichen Lebens, erklärte ihm sein Halbbruder viel später, ähnelt einer stimmigen Geschichte von Griffith. Sie saßen in Michels Wohnung und tranken Campari, es war an einem Maiabend. Sie erwähnten nur selten die Vergangenheit, meistens drehten sich ihre Gespräche um das politische oder gesellschaftliche Zeitgeschehen; aber an jenem

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