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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Heizkörpers. Victor schlief auf der Bettcouch im Wohnzimmer; er sah fünfzehn Stunden am Tag fern. Morgens, wenn Bruno aufwachte, lief der Fernseher schon, Victor sah sich die Zeichentrickfilme auf M6 an. Aus Rücksicht auf seinen Vater benutzte er Kopfhörer. Er war nicht gewalttätig, versuchte nicht, unfreundlich zu sein; aber er und sein Vater hatten sich absolut nichts mehr zu sagen. Zweimal am Tag wärmte Bruno ein Fertiggericht auf, sie saßen sich beim Essen gegenüber, fast ohne ein Wort zu sagen.
        Wie war es nur dazu gekommen? Victor war seit einigen Monaten dreizehn. Vor einigen Jahren hatte er noch gezeichnet und die Bilder seinem Vater gezeigt. Er malte Gestalten aus den Marvel-Zeichentrickfilmen ab: Fatalis, Fantastik, den Pharaon der Zukunft-, für die er neue Szenen erfand. Manchmal spielten sie eine Partie Memory oder gingen Sonntag morgens in den Louvre. Mit zehn Jahren hatte Victor seinem Vater einen Bogen feiner Zeichenpappe zum Geburtstag geschenkt, auf den er in großen bunten Buchstaben in Schönschrift geschrieben hatte: »PAPA, ICH LIEBE DICH.« jetzt war das alles vorbei. Es war wirklich vorbei. Und Bruno wußte, daß sich die Sache noch verschlimmern würde: Ihre gegenseitige Gleichgültigkeit würde allmählich in Haß umschlagen. In höchstens zwei Jahren würde sein Sohn versuchen, mit gleichaltrigen Mädchen auszugehen; diese fünfzehnjährigen Mädchen würde auch Bruno begehren. Sie würden sich bald in Rivalität zueinander befinden, dem Naturzustand der Männer. Sie waren wie Tiere, die sich in demselben Käfig bekämpften, dem Käfig der Zeit.

        Auf dem Weg nach Hause kaufte Bruno bei einem nordafrikanischen Lebensmittelhändler zwei Flaschen Anislikör; dann rief er, ehe er sich sinnlos betrank, seinen Bruder an, um sich für den nächsten Tag mit ihm zu verabreden. Als er bei Michel ankam, verschlang dieser gerade, nachdem er so lange gefastet hatte, voller Heißhunger eine Scheibe italienischer Wurst nach der anderen und trank dazu mehrere Gläser Wein. »Greif zu, greif zu ...«, sagte er vage. Bruno hatte den Eindruck, daß er ihm kaum zuhörte. Es war, als rede er mit einem Psychiater oder gegen eine Wand. Und dennoch redete er.
        »Mehrere Jahre lang hat sich mein Sohn mir zugewandt und hat meine Liebe gesucht; ich war deprimiert, unzufrieden mit meinem Leben, und habe ihn zurückgestoßen, weil ich warten wollte, bis es mir besser ging. Ich wußte damals noch nicht, daß diese Jahre so schnell vergehen. Zwischen sieben und zwölf sind Kinder wunderbare Wesen - lieb, verständig und offen. Sie sprühen vor Vernunft und vor Freude. Sie sind sehr liebevoll und begnügen sich zugleich mit der Liebe, die man ihnen entgegenbringt. Anschließend bricht alles zusammen. Alles bricht unweigerlich zusammen.«
    Michel verschlang die letzten beiden Scheiben Wurst und schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein. Seine Hände zitterten sehr stark. Bruno fuhr fort: »Es ist schwer, sich jemanden vorzustellen, der ebenso blöd, aggressiv, unerträglich und gehässig ist wie ein Junge in der Vor-Pubertät, vor allem wenn er mit gleichaltrigen Jungen zusammen ist. Jungen in diesem Alter sind wahre Monster und noch dazu unvorstellbar dumm, ihr Konformismus kennt keine Grenzen; ein vor-pubertärer Junge scheint die plötzliche, unheilvolle (und, im Hinblick auf das Kind, unvorhersehbare) Kristallisation alles Schlechten im Menschen zu sein. Wie soll man folglich daran zweifeln, daß die Sexualität ein absolut negativer Trieb ist? Wie ertragen es die Leute nur, mit einem vor-pubertären Jungen unter einem Dach zu leben? Ich vertrete die These, daß es ihnen nur gelingt, weil ihr Leben völlig leer ist; allerdings ist mein Leben auch leer, und mir ist es nicht gelungen. Auf jeden Fall lügen alle, und alle lügen auf groteske Weise. Man ist geschieden, aber man bleibt befreundet. Man nimmt seinen Sohn jedes zweite Wochenende zu sich; das ist eine Sauerei. Eine totale, grenzenlose Sauerei. In Wirklichkeit haben sich die Männer nie für ihre Kinder interessiert, haben nie Liebe für sie empfunden, überhaupt sind Männer unfähig, Liebe zu empfinden, das ist ein Gefühl, das ihnen völlig fremd ist. Sie kennen nur Begierde, sexuelle Begierde der niedersten Art, und männliche Rivalität; und viel später dann, im Rahmen der Ehe, ist es früher manchmal vorgekommen, daß sie ihrer Gefährtin gegenüber eine gewisse Dankbarkeit empfanden - wenn sie ih- nen Kinder geschenkt

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