Elementarteilchen
hatte, den Haushalt ordentlich führte, eine gute Köchin und eine gute Liebhaberin war; dann schliefen sie gern im selben Bett mit ihr. Das war vielleicht nicht das, was die Frauen begehrten, es handelte sich vielleicht um ein Mißverständnis, aber es war ein Gefühl, das sehr stark sein konnte, auch wenn sie nicht der - im übrigen mit der Zeit schwächer werdenden - Versuchung widerstehen konnten, ab und zu eine kleine Mieze zu vernaschen, konnten sie buchstäblich nicht mehr ohne ihre Frau leben, und falls diese unglücklicherweise das Zeitliche segnete, begannen sie zu trinken und starben sehr schnell, im allgemeinen nach wenigen Monaten. Was die Kinder betrifft, sie dienten der Erhaltung eines Berufsstandes, der gesellschaftlichen Regeln und des Erbguts. Das war natürlich in den Oberschichten der Feudalgesellschaft der Fall, aber auch bei den Kaufleuten, Bauern und Künstlern, ja in allen Schichten der Gesellschaft. Heute gibt es das alles nicht mehr: Ich bin Gehaltsempfänger, ich bin Mieter, ich habe meinem Sohn nichts zu vererben. Ich kann ihn keinen Beruf lehren, ich weiß nicht einmal, was er später machen könnte; die gesellschaftlichen Regeln, die ich erlernt habe, werden für ihn sowieso nicht mehr gültig sein, er wird in einer anderen Welt leben. Wenn man die Ideologie des ständigen Wandels akzeptiert, akzeptiert man auch die Vorstellung, daß das Leben eines Menschen auf sein individuelles Dasein beschränkt ist und daß die früheren und zukünftigen Generationen in seinen Augen keinerlei Bedeutung haben. So leben wir jetzt, und ein Kind zu haben, hat für einen Mann heutzutage überhaupt keinen Sinn mehr. Für die Frauen ist das anders, denn sie haben weiterhin das Bedürfnis, ein Wesen zu haben, das sie lieben können - für die Männer trifft das nicht zu und hat nie für sie zugetroffen. Die Behauptung, daß es die Männer ebenfalls danach verlangt, ein Baby zu hätscheln, mit ihren Kindern zu spielen und zu schmusen, ist falsch. Auch wenn das seit Jahren immer wieder behauptet worden ist, ist das dennoch falsch. Sobald man geschieden ist und der familiäre Rahmen gesprengt ist, verliert die Beziehung zu den Kindern jeden Sinn. Das Kind ist die Falle, die zugeschnappt ist, der Feind, für dessen Unterhalt du weiterhin aufkommen mußt und der dich überlebt.«
Michel stand auf und ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Er sah farbige Räder, die sich in halber Höhe in der Luft drehten, und hatte das Bedürfnis, sich zu übergeben. Als erstes mußte er das Zittern seiner Hände unterdrücken. Bruno hatte recht, die väterliche Liebe war eine Erfindung, eine Lüge. Eine Lüge ist nützlich, wenn sie erlaubt, die Wirklichkeit zu verändern, dachte er; aber wenn die Veränderung scheitert, bleibt nur noch die Lüge, die Verbitterung und das Bewußtsein der Lüge zurück.
Er ging wieder ins Wohnzimmer. Bruno saß zusammengesunken im Sessel und rührte sich ebensowenig, als sei er tot. Zwischen den Hochhäusern wurde es dunkel; nach einem weiteren stickigen Tag wurde die Temperatur allmählich wieder erträglich. Michel bemerkte plötzlich den leeren Käfig, in dem sein Kanarienvogel mehrere Jahre gelebt hatte; ich muß den Käfig wegwerfen, sagte er sich, er hatte nicht die Absicht, das Tier zu ersetzen. Flüchtig dachte er an seine Nachbarin von gegenüber, die Redakteurin bei der Zeitschrift 2o Ans; er hatte sie seit Monaten nicht mehr gesehen, wahrscheinlich war sie umgezogen. Er zwang sich, sich auf seine Hände zu konzentrieren, stellte fest, daß das Zittern ein wenig nachgelassen hatte. Bruno saß noch immer regungslos da; ihr Schweigen währte noch ein paar Minuten.
12
»Ich habe Anne 1981 kennengelernt«, fuhr Bruno seufzend fort. »Sie war nicht besonders hübsch, aber ich hatte die Nase voll vom Wichsen. Immerhin hatte sie große Brüste, und das hat mir an ihr gefallen. Ich habe schon immer große Brüste gemocht ...« Er seufzte wieder lange. »Meine puritanische Wohlstandstusse mit den großen Titten ...« Zu Michels großer Überraschung füllten sich seine Augen mit Tränen. »Später sind ihre Brüste erschlafft, und unsere Ehe ist ebenfalls in die Brüche gegangen. Ich habe ihr das Leben versaut: Das ist etwas, was ich nie vergessen werde: Ich habe dieser Frau das Leben versaut. Hast du noch Wein?«
Michel ging in die Küche, um eine Flasche Wein zu holen. All das war ziemlich ungewöhnlich; er wußte, daß sich Bruno eine
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