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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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lange konnte die westliche Gesellschaft ohne jede Religion weiterbestehen? Als Kind hatte er gern die Pflanzen im Gemüsegarten gegossen. Er besaß noch ein kleines quadratisches Schwarzweißfoto, auf dem er unter Aufsicht seiner Großmutter eine Gießkanne in der Hand hielt; er mochte damals etwa sechs Jahre alt gewesen sein. Später hatte er gern Einkäufe gemacht; mit dem Wechselgeld des Brots durfte er sich Karamelbonbons kaufen. Anschließend hatte er Milch beim Bauern geholt; er hatte die Aluminiumkanne mit der noch warmen Milch am ausgestreckten Arm hin und her geschwenkt und sich etwas gefürchtet, wenn er nach Einbruch der Dunkelheit über den von Dornensträuchern gesäumten Hohlweg ging. Heute war für ihn jeder Gang in den Supermarkt eine Qual. Dabei änderten sich die Waren, es kamen unentwegt neue Tiefkühlgerichte für Singles auf den Markt. Vor kurzem hatte er - zum erstenmal - in der Fleischabteilung seines Monoprix ein Straußensteak gesehen.
        Um die Reproduktion zu ermöglichen, trennen sich die beiden Stränge, aus denen das DNA-Molekül besteht, ehe jeder für sich komplementäre Nukleotide anzieht. Der Moment der Tren- nung ist ein heikler Augenblick, da unmittelbar danach unkontrollierbare, zumeist schädliche Mutationen entstehen können. Die stimulierende Wirkung des Fastens auf die geistige Tätigkeit ist erwiesen, und nach Ablauf der ersten Woche hatte Michel die Intuition, daß eine vollkommene Reproduktion unmöglich sei, solange das DNA-Molekül die Form einer Doppelhelix hatte. Um eine unveränderte Replikation über eine beliebige Anzahl von Zellzyklen zu erhalten, war es vermutlich nötig, daß die Struktur, die die genetische Information enthielt, eine kompakte Topologie besaß - etwa die eines Möbiusbandes oder die eines Torus.

        Als Kind hatte er den natürlichen Verschleiß der Gegenstände, die Tatsache, daß sie zerbrachen oder sich abnutzten, nicht ertragen können. So hatte er etwa jahrelang die beiden zerbrochenen Enden eines kleinen weißen Plastiklineals aufbewahrt, es unzählige Male wieder repariert, mit Klebestreifen umwickelt. Durch die dicke Schicht der Klebestreifen war das Lineal nicht mehr gerade, konnte nicht mehr dazu dienen, Striche zu ziehen, also die Aufgabe eines Lineals erfüllen; und dennoch bewahrte er es auf. Wenn es erneut zerbrach, reparierte er es, fügte eine weitere Schicht Klebestreifen hinzu und legte es wieder in sein Etui.
        Einer von Djerzinskis genialen Einfällen, sollte Frédéric Hubczejak viele Jahre später schreiben, bestand darin, daß er sich nicht mit seiner ersten Intuition begnügte, derzufolge die geschlechtliche Fortpflanzung als solche eine Quelle für schädliche Mutationen war. Seit Tausenden von Jahren, hob Hubczejak weiter hervor, waren alle menschlichen Kulturen von der mehr oder weniger deutlich formulierten Annahme geprägt, daß zwischen Geschlecht und Tod eine untrennbare Beziehung bestehe; ein Forscher, der diese Verknüpfung mit unwiderlegbaren Argumenten aus der Molekularbiologie nachgewiesen hatte, hätte normalerweise an dieser Stelle haltmachen und seine Aufgabe als beendet betrachten müssen. Djerzinski jedoch hatte die Intuition gehabt, daß man über den Rahmen der geschlechtlichen Fortpflanzung hinausgehen müsse, um die topologischen Bedingungen der Zellteilung in ihrer allgemeinsten Form zu untersuchen. Bereits in seinem ersten Schuljahr in der Grundschule in Charny war Michel die Grausamkeit der Jungen aufgefallen. Es handelte sich zwar um Bauernsöhne, also um kleine Tiere, die der Natur noch sehr nahe standen. Aber man mußte sich trotzdem wundern, mit welch fröhlicher, instinktiver Ungezwungenheit sie Kröten mit der Spitze ihres Zirkels oder ihres Federhalters aufspießten; die violette Tinte breitete sich unter der Haut des armen Tieres aus, das langsam verendete. Sie standen im Kreis und betrachteten mit glänzenden Augen den Todeskampf. Ein anderes ihrer Lieblingsspiele bestand darin, den Schnecken mit einer Schere die Fühler abzuschneiden. Das gesamte Empfindungsvermögen der Schnecke bündelt sich in deren Fühlern, die an der Spitze kleine Augen tragen. Ohne Fühler ist die Schnecke nur noch eine leidende, hilflose weiche Masse. Michel begriff sehr schnell, daß er gut daran täte, sich in gewissem Abstand von diesen kleinen Rohlingen aufzuhalten; von den Mädchen dagegen, diesen viel sanfteren Wesen, hatte er wenig zu befürchten. Diese erste Intuition bezüglich der Welt

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