Elementarteilchen
Kinder sehen mögen, bis in die dritte und vierte Generation. Daß sie ein glückliches Alter verleben mögen und ihnen die Ruhe der Auserwählten im Himmelreich vergönnt sei. Im Namen unseres Herren Jesus Christus, Amen.« Michel drängte sich durch die Menge, um sich dem Altar zu nähern, und zog verärgerte Blicke auf sich. Er blieb drei Reihen vor dem Altar stehen, um dem Austausch der Ringe zuzusehen. Mit gesenktem Kopf und eindrucksvoller Konzentration ergriff der Pfarrer die H ände des Brautpaars; in der Kirche herrschte völlige Stille. Dann hob er den Kopf und rief mit lauter Stimme, die energisch und zugleich verzweifelt klang und eine höchst erstaunliche Ausdruckskraft besaß: »Möge der Mensch nicht das trennen, was Gott vereint hat!«
Später näherte sich Michel dem Pfarrer, der seine Utensilien wegpackte, und sagte: »Es hat mich sehr interessiert, was Sie da eben gesagt haben ...« Der Gottesmann lächelte höflich. Dann kam Michel auf die Versuche von Aspect und das EPR-Paradoxon zu sprechen: Wenn zwei Elementarteilchen vereint worden sind, bilden sie fortan ein unteilbares Ganzes, »das scheint mir einen direkten Bezug zu dieser Geschichte mit dem einen Fleisch zu haben.« Das Lächeln des Pfarrers erstarrte leicht. »Ich meine«, fuhr Michel lebhaft fort, »ontologisch gesehen, kann man ihnen einen Einheitsvektor in einem Hilbert-Raum zuordnen. Verstehen Sie, was ich meine?« »Ja gewiß, gewiß ...«, murmelte der Diener Christi und blickte sich hilflos um. »Entschuldigen Sie«, sagte er abrupt, ehe er sich dem Vater der Braut zuwandte. Sie schüttelten sich lange die Hand und umarmten sich feierlich. »Eine sehr schöne Trauung, wirklich wunderschön ...«, sagte der Finanzexperte gerührt.
»Du bist nicht zum Fest geblieben ...«, erinnerte sich Bruno. »Es war etwas peinlich, ich kannte niemanden, und dabei war es meine Hochzeit. Mein Vater ist mit großer Verspätung eingetroffen, aber wenigstens ist er gekommen: Er war schlecht rasiert, die Krawatte hing auf Halbmast, und er sah wirklich aus wie ein alter, verbrauchter Lebemann. Ich bin sicher, daß sich Annes Eltern eine bessere Partie gewünscht hätten, aber na ja, als bürgerliche evangelische Linke hatten sie trotz allem einen gewissen Respekt vor Lehrern. Außerdem besitze ich eine agrégation und sie hatte nur das Staatsexamen. Das Gemeine daran ist, daß sie eine sehr hübsche kleine Schwester hatte. Sie ähnelte ihr ziemlich, hatte ebenfalls große Brüste; nur daß sie kein langweiliges, sondern ein wunderschönes Gesicht hatte. Das hängt bloß von kleinen Dingen ab, von wenigen Gesichtszügen oder sonst irgendeiner Einzelheit. Das ist bitter ...« Er seufzte noch einmal, schenkte sich Wein nach.
»Ich habe im Herbst 1984 meine erste Stelle im Lycée Carnot in Dijon angetreten. Anne war im sechsten Monat schwanger. Das war es dann also, wir waren Lehrer, waren ein Lehrerehepaar; und vor uns lag jetzt ein ganz normales Leben.
Wir haben eine Wohnung in der Rue Vannerie gemietet, ganz in der Nähe des Gymnasiums. >Die Preise hier sind nicht vergleichbar mit den Pariser Preisen<, hatte das Mädchen aus dem Maklerbüro gesagt.>Natürlich ist auch das Leben hier nicht vergleichbar mit dem Pariser Leben, aber Sie werden schon sehen, im Sommer geht es hier sehr fröhlich zu, es sind Touristen da, und während des Festivals für Barockmusik kommen viele junge Leute.< Barockmusik ... ?
Ich habe sofort begriffen, daß ich in Teufels Küche war. Nicht etwa wegen des >Pariser Lebens<, damit hatte ich nichts am Hut, in Paris war ich die ganze Zeit nur unglücklich gewesen. Sondern weil ich auf alle Frauen scharf war, außer auf meine eigene. Wie in allen Provinzstädten, gibt es in Dijon viele süße kleine Miezen, das ist viel schlimmer als in Paris. Und damals war die Mode gerade verdammt sexy. Es war unerträglich, all diese Mädchen mit ihrem geilen Gehabe, ihren geilen Röcken und ihrem geilen Lachen. Tagsüber sah ich sie im Unterricht und mittags im Penalty, im Bistro neben dem Gymnasium, wo sie sich mit den Jungen unterhielten; ich ging nach Hause, um mit meiner Frau zu Mittag zu essen. Und am Samstagnachmittag sah ich sie auf den Geschäftsstraßen der Stadt wieder, sie kauften sich Klamotten und Platten. Ich war dort mit Anne, sie sah sich die Babykleidung an; ihre Schwangerschaft verlief ohne Probleme, sie war unglaublich glücklich. Sie schlief viel und konnte essen, was sie wollte; wir
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