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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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wurde durch die Sendung Das Leben der Tiere bestärkt, die jeden Mittwochabend im Fernsehen gezeigt wurde. Mitten in der Riesenschweinerei, dem ständigen Gemetzel, das die tierische Natur kennzeichnet, bestand die einzige Spur von Hingabe und Selbstlosigkeit in der Mutterliebe oder einem Schutzinstinkt, auf jeden Fall in irgend etwas, das unmerklich und stufenweise zur Mutterliebe hinführte. Das Tintenfischweibchen, ein ergreifendes kleines Wesen von etwa zwanzig Zentimer Länge, griff ohne zu zögern den Taucher an, der sich ihren Eiern näherte. Dreißig Jahre später mußte er ein weiteres Mal zu der gleichen Schlußfolgerung kommen: Die Frauen waren einfach besser als die Männer. Sie waren zärtlicher, liebevoller, mitfühlen- der; sie neigten weniger zu Gewalttätigkeit, Egoismus, Selbstbehauptung, Grausamkeit. Außerdem waren sie vernünftiger, intelligenter und fleißiger.
    Wozu, fragte sich Michel, während er die Bewegung der Sonnenstrahlen auf den Vorhängen beobachtete, dienten die Männer eigentlich? Es mag sein, daß die Manneskraft in früheren Zeiten, als es noch zahlreiche Bären gab, eine spezifische, unersetzliche Rolle gespielt hat; aber seit mehreren Jahrhunderten erfüllten die Männer offensichtlich so gut wie keinen Zweck mehr. Um ihrer Langeweile zu entgehen, spielten sie manchmal eine Partie Tennis, was noch das kleinere Übel war; aber manchmal hielten sie es auch für nötig, die Geschichte voranzutreiben, das heißt im wesentlichen, Revolutionen und Kriege hervorzurufen. Außer dem absurden Leid, das Revolutionen und Kriege erzeugten, zerstörten diese das Beste aus der Vergangenheit und zwangen die Menschen, reinen Tisch zu machen, um etwas Neues aufzubauen. Die Entwicklung der Menschheit, die sich nicht in den regelmäßigen Bahnen eines allmählichen Aufstiegs vollzog, bekam dadurch eine chaotische, unregelmäßige Wendung mit zersetzender, gewaltsamer Wirkung. Für all das waren die Männer (mit ihrer Bereitschaft zum Risiko, ihrer Lust am Spiel, ihrer grotesken Eitelkeit, ihrer Verantwortungslosigkeit und ihrer grundsätzlichen Brutalität) unmittelbar und ausschließlich verantwortlich. Eine aus Frauen bestehende Welt wäre in jeder Hinsicht überlegen; sie würde sich langsamer, aber mit größerer Regelmäßigkeit, ohne Rückschläge und ohne verhängnisvolle Infragestellungen auf einen Zustand allgemeinen Glücks hinentwickeln.
    Am Morgen des 15. August stand er auf und ging nach draußen, in der Hoffnung, daß niemand auf der Straße war, was praktisch zutraf. Er machte sich ein paar Notizen, die er etwa zehn Jahre später wiederfinden sollte, als er seinen wichtigsten Artikel schrieb: Prolegomena zu einer vollkommenen Replikation.
        Am gleichen Tag brachte Bruno seinen Sohn zu seiner Exfrau zurück; er war erschöpft und verzweifelt. Anne kam von einer Abenteuerreise mit Nouvelles Frontières zur Osterinsel oder nach Benin zurück, er erinnerte sich nicht mehr genau; sie hatte sich vermutlich mit einigen Frauen angefreundet, sie hatten Adressen ausgetauscht - sie würde sie zwei- oder dreimal wiedersehen, ehe sie es leid wurde; aber sie würde keine Männer kennengelernt haben - Bruno hatte den Eindruck, daß sie, was Männer anging, alle Hoffnung aufgegeben hatte. Sie würde ihn zwei Minuten lang zur Seite nehmen und wissen wollen, »wie es gewesen sei«. Er würde antworten: »Gut«, er würde einen ruhigen, selbstsicheren Ton anschlagen, wie es Frauen mögen; und mit einem Anflug von Humor würde er hinzufügen: »Victor hat aber doch ziemlich viel ferngesehen.« Er würde sich sehr schnell unbehaglich fühlen, denn seit Anne das Rauchen aufgegeben hatte, ertrug sie es nicht mehr, daß bei ihr geraucht wurde; ihre Wohnung war geschmackvoll eingerichtet. Beim Abschied würde er ein leichtes Bedauern empfinden, sich wieder einmal fragen, was er tun könne, damit alles anders werde; er würde Victor schnell in den Arm nehmen und anschließend gehen. Dann würde es soweit sein: Die Ferien mit seinem Sohn waren zu Ende.
        In Wirklichkeit waren diese beiden Wochen eine Qual gewesen. Bruno hatte auf seiner Matratze gelegen - eine Flasche Bourbon in Reichweite - und auf die Geräusche gehorcht, die sein Sohn im Nebenzimmer machte: die Wasserspülung, die sein Sohn betätigte, nachdem er pissen gegangen war, das Knistern der Fernbedienung. Genau wie sein Halbbruder in diesem Augenblick, und ohne es zu wissen, betrachtete er stundenlang stumpfsinnig die Rohre seines

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