Elementarteilchen
schliefen nicht mehr miteinander, aber ich glaube, das hat sie nicht mal gemerkt. W ährend der Vorberei- tungskurse auf die Geburt hatte sie sich mit anderen Frauen angefreundet; sie war sehr umgänglich, sehr umgänglich und nett, eine Frau, mit der man bestens auskommen konnte. Als ich erfuhr, daß sie einen Jungen erwartete, war das für mich ein furchtbarer Schock. Das war das Schlimmste, was mir passieren konnte, jetzt mußte ich mich auf das Schlimmste vorbereiten. Ich hätte eigentlich glücklich sein müssen; ich war erst achtundzwanzig und fühlte mich, als sei ich schon tot.
Victor ist im Dezember geboren; ich erinnere mich noch an seine Taufe in der Saint-Michel-Kirche, es war ergreifend. >Die Getauften sind die lebendigen Steine, mit denen das geistige Gebäude, das heilige Priesteramt errichtet wird<, sagte der Priester. Victor war ganz rot und faltig in seinem kleinen weißen Spitzenkleid. Es war eine Gemeinschaftstaufe wie in den Anfangszeiten der Kirche; ein knappes Dutzend Familien nahm daran teil. >Die Taufe ist die Eingliederung in die Kirche<, sagte der Priester, >sie macht uns zu Gliedern des Körpers Christi.< Anne hielt Victor im Arm, er wog vier Kilo. Er war sehr artig, hat überhaupt nicht geschrien. >Sind wir daher nicht alle miteinander Glieder des einen und des anderen?< sagte der Priester. Wir Eltern sahen einander etwas zweifelnd an. Dann hat der Priester dreimal das Taufwasser über den Kopf meines Sohns gegossen und ihn anschließend mit Chrisma gesalbt. Dieses duftende Öl, das der Bischof geweiht hatte, sei das Symbol für das Geschenk des Heiligen Geistes, sagte der Priester. Dann richtete er sich direkt an ihn. >Victor<, sagte der Priester, >jetzt bist du ein Christ geworden. Durch diese Salbung des Heiligen Geistes bist du mit Christus eins geworden. Du nimmst jetzt an seiner prophetischen, priesterlichen, königlichen Aufgabe teil.< Das hat mich so beeindruckt, daß ich der Gruppe Glaube und Leben beigetreten bin, die sich jeden Mittwoch traf. Eine Junge Koreanerin nahm auch daran teil, die sehr hübsch war und die ich am liebsten sofort gevögelt hätte. Das war ziemlich heikel, sie wußte, daß ich verheiratet war. Eines Samstags hat Anne die Gruppe zu uns einge- laden; die Koreanerin hat sich aufs Sofa gesetzt, sie trug einen kurzen Rock; ich habe den ganzen Nachmittag nur auf ihre Beine gestarrt, aber das hat niemand gemerkt.
In den Februarferien ist Anne mit Victor zu ihren Eltern gefahren; ich bin allein in Dijon geblieben. Ich habe noch einmal den Versuch gemacht, katholisch zu werden; ich lag auf meiner Dunlopillo-Matratze und las Das Mysterium der unschuldigen Kinder und trank dabei Anislikör. Charles Péguy ist schon toll, wirklich wunderschön; aber das hat mich schließlich völlig deprimiert. All diese Geschichten über die Sünde und die Vergebung der Sünde, und Gott, der sich mehr über die Rückkehr eines Sünders als über das Heil von tausend Gerechten freut ... Ich wäre gern ein Sünder gewesen, aber es gelang mir einfach nicht. Ich hatte das Gefühl, man habe mir meine Jugend gestohlen. Ich hatte nur einen Wunsch, und zwar den, mir den Schwanz von kleinen Ludern mit sinnlichen Lippen lutschen zu lassen. In den Diskotheken gab es viele kleine Luder mit sinnlichen Lippen, und während Annes Abwesenheit bin ich mehrmals ins Slow Rock und ins L‘Enfer gegangen; doch sie gingen mit anderen und nicht mit mir, lutschten andere Schwänze und nicht meinen; und das hielt ich einfach nicht mehr aus. Damals kam gerade der Telefonsex per Minitel auf, es wurde ein unheimlicher Aufruhr damit veranstaltet, und ich habe ganze Nächte vor dem Bildschirm verbracht. Victor schlief in unserm Schlafzimmer, aber er schlief jede Nacht durch, das war kein Problem. Ich habe große Angst gehabt, als die erste Telefonrechnung kam, ich habe sie aus dem Briefkasten geholt und den Umschlag auf dem Weg zum Gymnasium geöffnet: vierzehntausend Franc. Zum Glück besaß ich aus meiner Studentenzeit noch ein Sparbuch, ich habe alles auf unser Konto überwiesen, Anne hat nichts gemerkt. Die Möglichkeit zu leben beginnt im Blick des anderen. Nach und nach wurde mir klar, daß mich meine Kollegen, die Lehrer vom Lycée Carnot, ohne Haß oder Wut betrachteten. Sie hatten nicht das Gefühl, in Konkurrenz mit mir zu stehen; wir hatten uns derselben Aufgabe hingegeben, ich war ei ner von ih nen. Sie haben mir den Sinn für das Normale, für das Praktische beigebracht. Ich habe meinen
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