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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Manson keineswegs ein monströser Ableger der Hippie-Bewegung, sondern deren logische Weiterführung; und David di Meola hatte nur die Werte der individuellen Befreiung, die sein Vater gepredigt hatte, weitergeführt und in die Tat umgesetzt. Macmillan gehörte der konservativen Partei an, und seine beißende Kritik an der individuellen Freiheit wurde in den Reihen seiner eigenen Partei nicht selten zähneknirschend aufgenommen; aber sein Buch hatte eine beachtliche Wirkung. Durch seine Autorenrechte zu Reichtum gekommen, widmete er sich ganz der Politik; im Jahr darauf wurde er ins Repräsentantenhaus gewählt.«

    Bruno verstummte. Er hatte seinen Kaffee schon seit langem aufgetrunken, es war vier Uhr morgens und es war kein Wiener Aktionist im Restaurant. Tatsächlich saß Hermann Nitsch zur Zeit in einem österreichischen Gefängnis seine Strafe für die Vergewaltigung Minderjähriger ab. Dieser Mann war schon über sechzig, man konnte hoffen, daß er bald sterben würde; damit wäre eine Wurzel des Übels aus der Welt geschaffen. Es gab überhaupt keinen Grund dafür, daß er sich so aufregte. Alles war inzwischen ruhig; ein einziger Kellner ging zwischen den Tischen umher; sie waren im Augenblick die einzigen Kunden, aber die Brasserie war Tag und Nacht geöffnet, das war draußen angeschlagen und wurde auf den Speisekarten wiederholt, es war praktisch eine vertragliche Verpflichtung. »Die sollen mir bloß nicht pampig kommen, diese Arschlöcher«, sagte Bruno mechanisch. Ein Menschenleben in unseren heutigen Gesellschaften durchläuft zwangsläufig eine oder mehrere Krisenzeiten mit starker persönlicher Infragestellung. Folglich ist es normal, daß man im Zentrum einer großen europäischen Hauptstadt wenigstens zu einem Lokal Zugang hat, das die ganze Nacht geöffnet ist. Er bestellte eine Himbeerkaltschale und zwei Kirschwasser. Christiane hatte seinen Worten aufmerksam gelauscht; ihr Schweigen hatte etwas Schmerzliches. Jetzt mußten sie wieder zu den einfachen Freuden des Lebens zurückfinden.
    16

    FÜR EINE ÄSTHETIK DES GUTEN WILLENS

    Sobald die Morgenröte erschienen ist, gehen die jungen Mädchen Rosen pflücken. Ein Strom von Unschuld ergießt sich ü ber Täler und Großstädte, eilt der Intelligenz der begeistertsten Dichter zu Hilfe, breitet sich schützend über die Wiegen, bekränzt die Jugend, bringt den Greisen den Glauben der Unsterblichkeit.«

    (Lautréamont: Di chtungen II)

        Die meisten Individuen, die Bruno im Lauf seines Lebens kennengelernt hatte, waren fast ausschließlich von der Suche nach Sinnenfreuden beseelt – vorausgesetzt natürlich, dass man in den Begriff der Sinnenfreuden die narzißtischen Befriedigungen einbezieht, die sehr stark mit der Wertschätzung oder Bewunderung der anderen verbunden sind. Und so entstanden unterschiedliche Strategien, die man als Menschenleben bezeichnete.
        Sein Halbbruder stellte jedoch eine Ausnahme von dieser Regel dar; allein der Begriff Sinnenfreuden schien sich schwer mit ihm in Beziehung setzen zu lassen; aber war Michel überhaupt von irgend etwas beseelt? Eine geradlinige, gleichförmige Bewegung ist von unendlicher Dauer, wenn sie weder der Reibung noch einer von außen auf sie einwirkenden Kraft ausgesetzt ist. Das rationale, organisierte, soziologisch gesehen in der oberen Mittelschicht angesiedelte Leben seines Halbbruders schien bisher keiner Reibung ausgesetzt worden zu sein. Es war möglich, daß sich im geschlossenen Milieu der Molekularbiologen harte, undurchsichtige Machtkämpfe abspielten, doch Bruno zweifelte daran.
    »Du hast eine sehr düstere Lebensanschauung ...«, sagte Christiane nach langem, drückenden Schweigen.» Ich bin Nietzscheaner«, präzisierte Bruno. »Aber ein eher unterbelichteter«, glaubte er hinzufügen zu müssen. »Ich lese dir mal ein Gedicht vor.« Er holte ein kleines Heft aus der Tasche und trug folgende Verse vor:

    Es ist immer derselbe alte Scheiß
von der ewigen Wiederkehr et cetera
Und ich esse schon wieder Erdbeereis
auf der Terrasse des Zarathustra.

    »Ich weiß, was wir machen«, sagte sie nach einem weiteren Moment des Schweigens. »Wir fahren zum Cap d'Agde und feiern Sexparties in der Nudistenkolonie. Da kommen holländische Krankenschwestern und deutsche Beamte hin, alles sehr korrekte Typen, ziemlich bürgerlich, im Stil der nordischen Länder oder der Beneluxstaaten. Warum sollen wir nicht mit luxemburgischen Polizisten Sexparties feiern?«
        »Ich habe

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