Elena - Ein Leben für Pferde
Sekunde pünktlich.«
Ich parierte Fritzi neben ihm durch und ließ mich aus dem Sattel gleiten. Als ich Tims Gesicht aus der Nähe sah, erschrak ich. Sein linkes Auge war fast zugeschwollen, auf seinem linken Backenknochen schillerte ein Bluterguss in Dunkelviolett.
»Was ist mit deinem Gesicht passiert?«, fragte ich entsetzt.
»Halb so schlimm.« Er winkte ab. »Das war mein Alter.«
»Was? Dein Vater hat dich geschlagen?«
»Nicht zum ersten Mal«, sagte Tim. »Und wohl auch nicht zum letzten.«
Ich war fassungslos.
»Zuerst hat er mir gestern auf der Rückfahrt eine geklebt, weil ich zu ihm gesagt habe, es sei eine total linke Tour von ihm, euch einfach die Pferde wegzunehmen. Im Stall gab’s dann später noch eins drauf.«
»Das hast du gesagt?« Ich staunte.
»Ja.« Tim stieß einen Seufzer aus. »Ich find’s total mies von meinem Vater. Er will die Viecher überhaupt nicht, hat gar keinen Bock, die auf Turnieren zu reiten. Und zu Hause muss sowieso ich sie reiten. Als ob ich nicht schon genug Arbeit hätte.«
So bitter hatte Tim noch nie geklungen und ich verschob die Bitte, uns bei der Überführung der Pferdediebe im Forsthaus zu helfen, auf später. Er hatte auch ohne das genug am Hals. Ich hatte echt Mitleid mit ihm. Er war gerade mal fünfzehn, musste neben der Schule arbeiten wie ein Erwachsener und wurde von seinem Vater auch noch verprügelt.
»Was sagt denn deine Mutter dazu?«, wagte ich zu fragen.
»Die ist froh, wenn sie selbst keine fängt.« Tim schnaubte verächtlich. Wir schwiegen beide für einen Moment, dann blickte Tim auf und grinste wieder. »Es war total cool, wie du meinem Alten gestern den Scheck abgenommen hast. Das hat ihm doch echt die Sprache verschlagen.«
»Hm.« Ich setzte meine Reitkappe ab und band mir meinen Pferdeschwanz neu. »Meinem Vater dafür leider nicht. Der ist so was von ausgeflippt und hat mich angebrüllt, ich sag’s dir. Christian hat ihm nämlich gesteckt, dass wir neulich auf dem Turnier zusammen eine Cola getrunken haben.«
»Mist«, erwiderte Tim und sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Und ausgerechnet ich musste die Pferde bei euch abholen. Dein Bruder hasst mich jetzt sicher noch mehr als vorher. Andererseits – was kann ich denn dafür?«
»Gar nichts«, antwortete ich. »Wir beide können überhaupt nichts für das alles. Wenn Papa wüsste, dass ich mich heimlich mit dir treffe, dann würde er mich wohl für immer und ewig im Keller einsperren.«
»Meinst du, bei uns wär’s anders?« Tim schüttelte den Kopf.
Verdammt, es war wirklich hoffnungslos!
»Allerdings ist es mir völlig egal, ob sie verfeindet sind oder nicht«, fuhr Tim fort. »Ich lasse mir nicht verbieten, dich zu treffen.«
Ich spürte, wie mein Herz plötzlich anfing zu klopfen. Tim riskierte mindestens genauso viel Ärger wie ich, wenn nicht sogar mehr, trotzdem fuhr er bei Wind und Wetter mit seinem Mofa hierher, um mich zu sehen. Nicht, weil er sich etwas davon versprach, sondern weil er … Ich traute mich kaum, den Gedanken weiterzuführen.
Tim war wirklich der netteste Junge, den ich je getroffen hatte. Er sah so wahnsinnig süß aus! Dabei war er so normal und kein Angeber wie viele andere Jungs in der Schule oder auf den Turnieren. Und jetzt stand ich hier mit ihm, ganz allein. Ich nahm allen Mut zusammen, streckte die Hand aus und berührte vorsichtig seine Wange.
Tim hob den Kopf. Plötzlich schlang er die Arme um mich und presste sein Gesicht an meines.
»Ach Elena«, flüsterte er und ich spürte, dass er über die ganze Situation genauso verzweifelt war wie ich selbst. »Warum muss nur alles so kompliziert sein?«
Genauso plötzlich, wie er mich umarmt hatte, ließ er mich wieder los.
»Ich glaube, Fritzi wird’s allmählich langweilig«, sagte er verlegen und vermied es, mich anzusehen. »Der Boden ist ganz okay. Wollen wir ein paar Sprünge machen?«
»Klar«, würgte ich hervor. Ich war total verwirrt und fühlte mich zittrig. Tim hatte mich umarmt!
Irgendwie gelangte ich in Fritzis Sattel, ritt ein paar Runden im Schritt um die Wiese, dann trabte ich an. Mittlerweile nieselte es ein bisschen, aber das störte mich nicht. Ich wäre im schlimmsten Unwetter geritten, wenn ich dafür nur mit Tim zusammen sein durfte!
Nach zehn Minuten begann ich, mit Fritzi zu springen. Tim hatte eine Gymnastikreihe auf der Wiese aufgebaut. In-Outs, Galoppstangen auf dem Boden und schließlich ein kleiner Oxer. Das kannte ich von Papa und dachte wieder
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