Elena – Ein Leben fuer Pferde
Dorfkirmes!«
Christian und Tim standen keuchend da, die Vernunft hatte aber wohl wieder die Oberhand gewonnen.
Mir strömten die Tränen über das Gesicht, ich zitterte vor Entsetzen am ganzen Körper. Es war für mich schier unerträglich, Tim bluten zu sehen. Bei meinem Bruder hielt sich das Mitleid hingegen in Grenzen, er hatte es schließlich darauf angelegt.
»Tim!«, rief ich.
Sein Blick wanderte suchend über die Menge, die sich allmählich zerstreute. Ein Lächeln flog über sein zerschundenes Gesicht, als er mich sah, aber in diesem Moment drängte sich jemand rücksichtslos an mir vorbei und schubste mich zur Seite.
»Tim, oh Gott!«, kreischte Ariane. »Du blutest ja!«
Ich sah wie in Zeitlupe, wie sie ihm um den Hals fiel, ihn herzte und ihn auf die Backe küsste. Irgendetwas zerbrach in meinem Innern. Melike legte einen Arm um mich, sie sagte irgendetwas, aber ich machte mich von ihr los. Das war mehr, als ich ertragen konnte.
Ich ging erst langsam, dann begann ich zu rennen. Jemand rief hinter mir meinen Namen, aber ich drehte mich nicht um. Irgendwie kam ich zu den Schließfächern, schloss mit zitternden Fingern den Spind auf, in dem ich meine Kleider und meinen Rucksack verstaut hatte. Die Zeit, mich umzuziehen, nahm ich mir nicht. Nur weg hier, weg!
»Elena!«
Plötzlich stand Tim vor mir. Blutverschmiert, mit zerzaustem Haar und so unglaublich süß, dass mir das Herz brach.
»Elena, bitte, was ist denn nur los?«, fragte er atemlos. »Warum antwortest du mir nicht auf meine SMS?«
»Dasselbe könnte ich dich fragen«, schluchzte ich und zerrte meinen Rucksack aus dem Spind. »Lass mich einfach in Ruhe!«
»Was zum Teufel ist passiert?« Tim ließ sich nicht so abspeisen. »Seit Tagen ist totale Funkstille! Hab ich was falsch gemacht?«
Die Tränen strömten. Ich konnte sie nicht aufhalten.
Verdammt! Er war so süß und ich liebte ihn so sehr, aber er war nur ein mieser Lügner und hatte mich tief enttäuscht.
»Geh zu Ariane und zu Laura und lass dich von denen abknutschen und dabei auch noch fotografieren!«, fuhr ich ihn an. »Ich hab echt keinen Bock auf so was!«
»He, das ist doch Unsinn«, sagte er leise. »Lass es mich erklären …«
»Nein!« Ich zuckte herum. Meine Stimme klang schrill, und ich hasste mich dafür, dass ich nicht cool und überlegen sein konnte. »Ich will nichts hören! Warum hast du mir nicht erzählt, dass Teicherts Con Amore gekauft haben? Und auch dass du ein Pferd von der Stiftung bekommen hast, erfahre ich von meinem Bruder! Was sind wir denn für Freunde, wenn du mir solche Sachen nicht erzählst?«
Tim starrte mich ein paar Sekunden stumm an, Verwirrung malte sich auf seinem demolierten Gesicht, aber ich war jetzt richtig in Fahrt.
»Mir erzählst du, dass Ariane und die anderen dich tierisch nerven, und dann sehe ich auf Fotos, wie du mit denen Spaß hast und rumknutschst! Und eben fällt sie dir vor allen Leuten um den Hals! Was soll ich dir denn noch glauben? Was? Ich kann das nicht ertragen, echt nicht!«
Und dann rannte ich einfach los. Tränenblind drängte ich mich durch die anderen Schüler, die mir erstaunt und grinsend Platz machten.
Aber Tim ließ sich nicht abschütteln.
»Elena!«, rief er hinter mir. »Dafür gibt es eine total harmlose Erklärung!«
Ich wollte sie nicht hören. Ich wollte gar nichts mehr hören und nur noch weg von den gaffenden Leuten, dem Sportplatz und Tim. Schluchzend stolperte ich die Treppen hoch zum Ausgang.
»Dann lies wenigstens meine SMS!«, rief er mir nach, und der verzweifelte Tonfall in seiner Stimme drang sogar durch mein vernebeltes Bewusstsein, aber es tröstete mich nicht.
Ich konnte seine SMS nicht lesen, selbst wenn ich gewollt hätte, denn ich hatte kein Handy mehr. Es war vorbei. Am liebsten hätte ich mich vor das nächste Auto geworfen, nur damit dieser fürchterliche Schmerz in meinem Innern aufhörte, doch auch da hatte ich wieder mal Pech: Es kam keins.
Zu meiner Erleichterung war Mama nicht da, als ich nach Hause kam. Ich schnappte meinen Hund, ging auf mein Zimmer, ließ die Rollläden herunter und verkroch mich in meinem Bett. Nichts mehr sehen und hören. Ich weinte, bis ich keine Tränen mehr hatte. Ariane konnte Tim vor allen Leuten umarmen und küssen – ich würde das nie, nie, nie tun dürfen! Immer würden wir zur Heimlichkeit verdammt sein, immer würde ich die Dumme sein und befürchten müssen, Tim würde mit anderen Mädchen mehr Spaß haben als mit mir.
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