Elena – Ein Leben fuer Pferde
ihm nach. Gerade als ich meinen Weg fortsetzen wollte, sah ich etwas Metallenes auf dem Boden liegen. Ein Schlüsselbund! Ich bückte mich und hob ihn auf. Liam musste ihn bei unserem Zusammenstoß eben verloren haben. Da ich keine Zeit und Lust hatte, ihm jetzt nachzulaufen, steckte ich den Schlüsselbund ein. Ich konnte ihn Liam später immer noch wiedergeben.
Tim erwartete mich bei unseren Pferden vor Fritzis Box. Im schwachen Licht der Nachtbeleuchtung sah ich seine Zähne weiß aufleuchten, als er mir nun entgegenlächelte. In der nächsten Sekunde lag ich in seinen Armen und spürte seine Lippen auf meinen. Mein Herz pochte vor Glück.
»Komm«, sagte er leise und ergriff meine Hand. »Lass uns hier verschwinden, bevor noch einer reinkommt.«
Wir wünschten Fritzi eine gute Nacht und verließen Hand in Hand das Stallzelt. Der Nachtwächter mit seinem Schäferhund würde gut auf Fritzi und die vielen anderen wertvollen Pferde aufpassen.
Tim und ich spazierten einen schmalen Pfad entlang, der zum nahe gelegenen See führte. Der Mond stand groß und gelb am nachtschwarzen Himmel und tauchte die Landschaft in ein unwirkliches Licht. Von fern wehten Fetzen der Musik und Gelächter zu uns herüber.
»Ich kann nicht verstehen, dass es einem Spaß machen kann, sich in so eine stickige Halle zu quetschen«, sagte ich. »Party! Pah!«
»Ich kann auch gut drauf verzichten.« Tims Stimme klang geringschätzig. »Die lassen sich alle nur volllaufen, protzen mit ihren Erfolgen und erzählen von ihren Heldentaten, die immer doller werden, je betrunkener sie sind. Mein Vater ist da auch ganz groß drin.«
Wir hatten das Ufer des Sees erreicht. Kleine Wellen rollten mit leisem Plätschern an den schmalen Strand. Der weiche Sand war noch warm von der Sonne. Der runde Mond spiegelte sich auf der silbrigen Wasseroberfläche, Frösche quakten. Im hohen Gras zirpte eine Grille. Wir hielten uns an den Händen und genossen den Zauber dieser friedlichen Sommernacht. Ich zog die Turnschuhe aus und grub meine nackten Zehen in den Sand.
»So stelle ich mir Urlaub vor«, sagte ich und seufzte glücklich. Urlaub gab es bei uns nicht. Im Sommer, wenn alle Welt verreiste, wartete auf einem Hof die meiste Arbeit: Heuernte, Strohernte, Turniere.
»Ich war auch noch nie verreist.« Tim beugte sich über mich und küsste mich. »Wenn wir älter sind, verreisen wir zusammen, okay?«
»Oh ja!« Ich lächelte. »Ich will mal nach Amerika, in die Rocky Mountains. Und in die Sahara. Wohin würdest du am liebsten fahren?«
Tim lag neben mir, den Kopf in die Hand gestützt. »Nach England. Dahin, wo die Harry-Potter-Filme spielen«, erwiderte er. »Oder in die Karibik …«
Wir träumten vor uns hin, malten uns aus, was wir tun würden, wenn wir erst erwachsen waren. Ich erzählte Tim von unseren neuen Einstellern, von Lajos’ Patienten, von Fritzi, und es war einfach ein perfekter Abend. Der Mond wanderte langsam über den Himmel.
Plötzlich schrillte mein Handy. Ich fuhr erschrocken hoch. Wir hatten völlig die Zeit vergessen und es war schon nach Mitternacht!
Mama klang ziemlich besorgt und wollte wissen, wo ich war.
»Ich habe noch kurz bei Fritzi vorbeigeschaut«, erwiderte ich, was ja nicht direkt gelogen war.
Eilig sprangen wir auf und liefen zurück zum Turniergelände.
»Ich hab meinem Vater übrigens gesagt, dass ich nach den Ferien weiter auf die Schule gehe«, sagte Tim.
»Und?«
»Erst hat er mich ausgelacht. Dann hat er gebrüllt, das käme überhaupt nicht infrage, ich sei jetzt alt genug, um etwas zu unserem Lebensunterhalt beizutragen, nachdem ich mich sechzehn Jahre lang ausgeruht hätte.« Tim schnaubte. »Er kann mich mal. Nach den Ferien gehe ich in die Elfte. Und ich mache Abitur.«
Ich drückte seine Hand. Tim hatte es so viel schwerer als alle anderen Jungs, die ich kannte. Niemals hätte Papa von Christian verlangt, die Schule aufzugeben, um im Stall mitzuarbeiten!
Kurz bevor wir die Lkws erreicht hatten, hielten wir an und umarmten uns ein letztes Mal.
»Was hast du denn da in der Tasche?«, fragte Tim.
Erst jetzt erinnerte ich mich an den Schlüsselbund, den ich vorhin eingesteckt hatte. Ich erzählte ihm rasch von meinem Zusammenprall mit Liam.
»Wahrscheinlich schläft er schon«, sagte ich schulternzuckend. »Ich geb ihn ihm morgen früh wieder.«
Mama erwartete mich am Wohnwagen, wo ich bei ihr und Papa schlafen sollte. Christian schlief in der Wohnkabine des kleinen Lkws, Liam in der des
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