Elenium-Triologie
Wir können die gesammelten Streitkräfte der Ritterorden nicht im Handumdrehen von Arzium herbeizaubern, und selbst wenn das möglich wäre, wie sollten wir die Feldherrn der Armee in jenem vom Krieg heimgesuchten Land überzeugen, daß unsere Not größer ist als ihre, damit sie die Ritter entlassen, so daß sie uns zu Hilfe eilen können?«
Patriarch Ortzel von Kadach erhob sich. Sein helles, ergrauendes Haar rahmte das strenge Gesicht ein.
»Gestattet, daß ich das Wort ergreife, Emban«, sagte er. Da er der durch Kompromiß aufgestellte Kandidat der Anniasgegner war, hatte sein Wort Gewicht.
»Selbstverständlich«, erwiderte Emban. »Es ist mir ein Bedürfnis, der Weisheit meines geschätzten Bruders aus Lamorkand zu lauschen.«
»Die oberste Pflicht der Kirche«, begann Ortzel mit seiner barschen Stimme, »ist es, zu überleben, damit sie ihre Arbeit weiterführen kann. Alle anderen Erwägungen sind zweitrangig. Sind wir uns in diesem Punkt einig?«
Ein zustimmendes Murmeln wurde laut.
»Es gibt Umstände, die Opfer erfordern«, fuhr Ortzel fort. »Ist das Bein eines Menschen zwischen Steinen eingeklemmt und die steigende Flut umspült bereits seinen Hals, muß er da nicht sein Bein opfern, um sein Leben zu retten? So ist es nun auch hier. Voll Kummer müssen wir, falls nötig, selbst ganz Arzium opfern, wenn nur dies unser Leben retten kann – unser Leben, und das unserer Heiligen Mutter Kirche. Wir blicken einer ernsten Krise entgegen, meine Brüder. Bisher schreckte die Hierokratie für gewöhnlich davor zurück, die harten und strikten Bedingungen dieser einschneidenden Maßnahme durchzusetzen, aber die Lage, in der wir uns jetzt befinden, ist zweifellos seit dem Einfall der Zemocher vor fünfhundert Jahren die bedrohlichste, der sich unsere Heilige Mutter gegenübersieht. Gott blickt auf uns herab, meine Brüder, und wird über uns richten, wenn wir in der Führung seiner geliebten Kirche versagen. Wie unsere Gesetze es erfordern, rufe ich zu einer sofortigen Abstimmung auf. Der Punkt, der zur Abstimmung steht, lautet ganz einfach: ›Stellt die gegenwärtige Situation in Chyrellos eine Gefahr für den Glauben dar?‹ Ja oder nein?«
Makovas Augen weiteten sich erschrocken. »Aber gewiß«, platzte er heraus, »gewiß ist die Lage nicht so kritisch! Wir haben noch nicht einmal Unterhandlungen mit den Armeen vor der Stadt versucht und…«
»Der Patriarch hat nicht das Wort«, wies Ortzel ihn scharf ab. »Über die Frage einer Glaubenskrise wird nicht debattiert!«
»Rechtsfrage!« brüllte Makova.
Ortzel blickte einschüchternd auf den schmächtigen Mönch, der als Rechtsberater diente. »Zitiert das Gesetz!« befahl er.
Der Mönch zitterte heftig und blätterte hastig durch seine Bücher.
»Was ist eigentlich los?« fragte Talen verwirrt. »Ich verstehe es nicht.«
»Ein Antrag auf Anerkennung einer Glaubenskrise wird so gut wie nie gestellt«, erklärte ihm Bevier. »Wahrscheinlich, weil die Könige von Westeosien so heftig dagegen protestieren. In einer Glaubenskrise übernimmt die Kirche alles – die Regierungen, Armeen, Finanzen – alles.«
»Wäre für die Entscheidung über eine Glaubenskrise nicht mindestens eine Hauptabstimmung erforderlich?« fragte Kalten. »Oder gar Einstimmigkeit?«
»Ich glaube nicht«, entgegnete Bevier. »Doch hören wir uns an, was der Rechtsberater zu sagen hat.«
»Aber ist dieser Punkt nicht ohnehin überflüssig?« meinte Tynian. »Wir haben schließlich bereits nach Wargun geschickt und ihm mitgeteilt, daß es eine Kirchenkrise gibt.«
»Man hat offenbar übersehen, Ortzel dies mitzuteilen«, antwortete Ulath. »Er nimmt es mit dem Wortlaut des Gesetzes peinlich genau. Da ist es doch besser, wir bringen ihn nicht in Verlegenheit.«
Der schmächtige Mönch erhob sich mit kreideweißem Gesicht und räusperte sich. Seine Stimme war schrill vor Angst. »Der Patriarch von Kadach hat das Gesetz korrekt zitiert«, verkündete er. »Über eine Glaubenskrise muß unverzüglich geheim abgestimmt werden.«
» Geheim? « rief Makova.
»So lautet das Gesetz, Eminenz, und die einfache Mehrheit genügt.«
»Aber…«
»Ich muß den Patriarchen von Coombe darauf hinweisen, daß eine weitere Diskussion nicht zulässig ist.« Ortzels Stimme war wie Peitschenknall. »Ich fordere zur Wahl auf.« Er blickte sich um. »Ihr«, wandte er sich an einen Geistlichen, der ganz in der Nähe des sichtlich verstörten Annias saß, »holt die Utensilien für die
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