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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
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werde die Sachen einfach verteilen. Alice Johnson, würdest du bitte kommen und mir helfen? Ihr anderen bleibt sitzen.« Alice ging nach vorn, und Miss Snell teilte die kleinen Päckchen in zwei Hälften auf und legte sie auf zwei Bogen Zeichenpapier. Alice nahm einen Bogen, hielt ihn vorsichtig, und Miss Snell nahm den anderen. Bevor sie durch das Zimmer gingen, sagte Miss Snell: »Ich denke, am höflichsten wäre es, wenn ihr alle wartet, bis jeder etwas hat, und dann öffnen wir die Päck- chen gemeinsam. Gut, Alice.«
     Sie gingen den Gang zwischen den Bankreihen entlang, lasen die Namen vor und verteilten die Geschenke. Die Kärtchen waren nach gewohnter Woolworth-Art mit einem Bild des Weihnachtsmanns und dem Schriftzug »Fröhliche Weihnachten« bedruckt, und Miss Snell hatte sie mit ihren ordentlichen Wandtafelbuchstaben beschrif- tet. Auf John Gerhardts Kärtchen stand: »Für John G., von Miss Snell.« Er nahm es, und in dem Moment, als er es in der Hand spürte, wußte er voller Entsetzen ganz genau, was es war. Jegliche Überraschung war verflogen, als Miss Snell wieder nach vorn zurückgekehrt war und sagte: »In Ordnung.«
     Er entfernte das Papier und legte das Geschenk auf den Tisch. Es war ein Radiergummi der zweckdienlichen Zehn-Cent-Art, die eine Hälfte weiß für Bleistift und die andere grau für Tinte. Aus dem Augenwinkel sah er, daß Howard White neben ihm einen identischen Radiergummi auspackte, und ein verstohlener Blick durch das Klassen- zimmer bestätigte, daß alle Geschenke gleich waren. Nie- mand wußte, wie er reagieren sollte, und für einen Zeit- raum, der eine volle Minute zu sein schien, war es völlig still im Zimmer, abgesehen vom verklingenden Rascheln des Papiers. Miss Snell stand vor der Klasse, ihre verschränk- ten Finger wanden sich wie Würmer vor ihrer Taille, ihre Gesichtszüge zerflossen zu dem weichen zittrigen Lächeln einer Gebenden. Sie wirkte vollkommen hilflos.
     Schließlich sagte eines der Mädchen: »Vielen Dank, Miss Snell«, und dann sagte die ganze Klasse in rauhem Unisono: »Vielen Dank, Miss Snell.«
     »Gern geschehen«, sagte sie und faßte sich wieder, »und ich wünsche euch allen schöne Feiertage.«
     Gnädigerweise läutete die Glocke, und in dem lärmi- gen Gedränge des Rückzugs in den Garderobenraum war es nicht länger nötig, Miss Snell anzusehen. Ihre Stimme erhob sich über den Lärm: »Würdet ihr bitte alle das Papier und die Bänder in den Papierkorb werfen, bevor ihr geht?«
     John Gerhardt fuhr in die Gummistiefel, griff nach sei- nem Regenmantel und drängte sich unter Einsatz der Ell- bogen aus dem Garderobenraum, aus dem Klassenzim- mer und den lauten Flur entlang. »He, Howard, beeil dich!« rief er Howard White zu, und schließlich waren beide von der Schule befreit und rannten spritzend durch die Pfützen auf dem Pausenhof. Mit jedem Schritt ließen sie Miss Snell weiter hinter sich; wenn sie schnell genug rannten, könnten sie sich sogar vor den Taylor-Zwillin- gen drücken, und dann müßten sie nicht mehr darüber nachdenken. Mit stampfenden Beinen und flatternden Regenmänteln rannten sie im Hochgefühl, entkommen zu sein.

Der BAR-Mann

    Bevor sein Name in einem Polizeiprotokoll und in den Zeitungen stand, hatte nie jemand viel über John Fallon nachgedacht. Er arbeitete als Angestellter bei einer gro- ßen Versicherungsgesellschaft, wo er sich mit einem gewissenhaften Stirnrunzeln schwerfällig zwischen den Aktenschränken bewegte, die weißen Manschetten um- geschlagen, um eine straff sitzende goldene Uhr am einen Handgelenk und das lockere Erkennungsband der Armee, ein Relikt aus einer unerschrockeneren und sorgloseren Zeit, am anderen zu entblößen. Er war neunundzwanzig Jahre alt, groß und stämmig, mit ordentlich gekämm- tem braunem Haar und einem breiten blassen Gesicht. Seine Augen blickten freundlich, außer wenn er sie vor Verwunderung weit aufriß oder sie drohend zusammen- kniff, und sein Mund war kindlich schlaff, außer wenn er die Lippen straffte, um etwas Knallhartes zu sagen. Als Straßenkleidung bevorzugte er flotte leuchtendblaue Anzüge mit gepolsterten Schultern und sehr tief angesetz- ten Knöpfen, und er ging im harten rhythmischen Klang seiner eisenbeschlagenen Absätze. Er lebte in Sunnyside, Queens, und war seit zehn Jahren mit einer sehr dünnen jungen Frau namens Rose verheiratet, die unter Stirnhöh- lenschmerzen litt, keine Kinder bekommen konnte und mehr Geld verdiente als er, weil sie

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