Elf Leben
sind Sie gekommen?«
»Ich bin jetzt auf Seite dreihundert«, sagt Iris, »und bisher –«
»Nein, nichts verraten!«, fällt ihr Xavier ins Wort. »Ich will nicht wissen, wie es ausgeht!«
Iris kichert – genau solche Witze mögen seine Hörer –, und Murray grunzt belustigt.
»Also, Iris, von welchem ›ersten Mal‹ möchten Sie uns erzählen?«
»Nun, ich wollte erzählen, wie ich zum ersten Mal meiner großen Liebe begegnet bin.«
»Wunderbar. Wann war das, Iris?«
»1950. Er kam zu mir in den Laden, ein Lebensmittelladen, nur ein Stück hier die Straße hinunter, ich meine, den gibt es natürlich längst nicht mehr, da ist jetzt eine Pizzeria drin. Ich war … nun ja, das ist achtundfünfzig Jahre her, da muss ich neunzehn gewesen sein. Er hieß Tony. Als er zum dritten Mal kam, um Rosenkohl zu kaufen, fasste ich mir ein Herz und fragte ihn, wie er heißt. Aber dieses erste Mal habe ich nicht einmal mit ihm gesprochen. Er hat mir einfach nur zugesehen, wie ich sein Gemüse in eine Papiertüte gepackt habe. Und dann, als er mir das Geld geben wollte, ließ er es auf den Ladentisch fallen – ich weiß noch, dass ich mich unwillkürlich gefragt habe, ob er nervös ist, wissen Sie, ob ich ihm wohl gefalle. Und als wir uns beide gleichzeitig nach den Münzen gebückt haben, sind wir mit den Köpfen zusammengestoßen. Rums!«
»Autsch!«, sagt Murray.
»Und hat Tony Sie dann gefragt, ob Sie mit ihm ausgehen«, fragt Xavier, »oder Sie ihn?«
»Oh nein, mein Lieber, nein, ausgegangen sind wir nie.« Iris lacht. »Ich habe ihn noch ein paarmal gesehen und mit ihm geplaudert, er hatte so einen herrlichen Humor, ein echter Gentleman. Einmal kam er mit einem Filzhut, nur um mich zum Lachen zu bringen. Und ein andermal fragte er, wie es mir gehe, und ich sagte, dass ich unheimlich gern einen Tee trinken würde. Eine halbe Stunde später kam er wieder und brachte mir eine Tasse Tee, die er zu Hause gemacht und den ganzen Weg über die Straße bis in den Laden getragen hatte! Es war sogar ein Keks dabei! Aber dann, nach ungefähr drei Monaten, ist er fortgezogen – ich nehme an, er bekam irgendwo eine Anstellung – und nie mehr wiedergekommen.«
Ein paar Sekunden lang ist es still in der Leitung.
»Aber ich dachte, er wäre Ihre große Liebe gewesen?«, fragt Xavier.
»Nun ja, ich glaube, das war er auch«, überlegt Iris. »Ich musste einfach so oft an ihn denken, er ging mir nie mehr aus dem Kopf. Ich habe dann natürlich einen tadellosen Burschen geheiratet, und wir hatten achtundzwanzig gemeinsame Jahre, bevor er starb. Trotzdem, ich wurde den Gedanken nie ganz los, dass der Richtige vielleicht von Anfang an dieser andere gewesen wäre, Tony.«
»Aber dann …«, fährt Iris fort.
Murray verzieht das Gesicht und macht seine Schluss-jetzt-Geste, aber Xavier winkt ab.
»Dann, letztes Jahr, da habe ich ihn auf der Straße gesehen, Tony. Er ging am Stock, aber ich habe ihn sofort wiedererkannt! Schönes volles Haar hatte er noch, schlohweiß. Ich habe Hallo gesagt und mich vorgestellt, und er konnte sich an mich erinnern. Er hat mir erzählt, dass er 1951 nach Leeds gezogen ist, geheiratet und Kinder bekommen hat, und dass er mit seiner Familie ein paar Jahre später wieder nach London gezogen ist. Seine Frau hat Alzheimer, und er war nur mal schnell vor der Tür, um ein paar Sachen für sie zu besorgen. Wir schüttelten einander die Hand, und das war’s.« Sie hustet. »Aber es war schön, ihn wiederzusehen.«
Xavier blinzelt und räuspert sich.
»Und Sie haben nicht zufällig herausbekommen, wo er wohnt, oder …?«
»Ach«, sagt Iris mit lebhafter, aber ziemlich angespannter Stimme. »Das alles ist doch über fünfzig Jahre her!«
»Aber würden Sie nicht gern wieder an Ihre Freundschaft anknüpfen?«
»Ach, na ja, in meinem Alter!«, sagt Iris.
»Unsinn. Wenn Sie Zeit haben, Verfall und Untergang des römischen Imperiums zu lesen …«
»Vielleicht haben Sie recht«, räumt sie vergnügt ein.
»Dann starten wir doch heute Abend einen Aufruf bei Late Lines «, sagt Xavier. »Tony, falls Sie gerade zuhören: Iris möchte Sie wiedersehen. Wenigstens auf eine Tasse Tee und einen Keks.«
»Vielen Dank, Xavier, wirklich, vielen Dank«, sagt Iris. »Und jetzt habe ich Ihre Zeit wirklich lange genug in Anspruch genommen. Machen Sie weiter so mit der Sendung!«
»Bitte halten Sie uns auf dem Laufenden, Iris, und rufen Sie bald wieder an. Sie hören Late Lines . Und hier sind Simon and
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