Elf Leben
niemand gemeldet.«
»Ich w-w-wundere mich nur, dass du ein Date hattest und mir nichts erzählst.«
Xavier ist überrascht, plötzlich so in der Defensive zu sein; auch das passt überhaupt nicht zu Murray, diese höfliche, vorwurfsvolle Art, und seine kleinen Stotterausbrüche lassen vermuten, dass Murray das auch weiß.
»Tut mir leid, Kumpel. Hab irgendwie nicht daran gedacht. Wie gesagt, es war ziemlich schnell vorbei. Ich seh sie auch nicht wieder oder so.«
»B-brauchst dich nicht zu e-e-entschuldigen. Ich bin halt gerade nicht so … oh, noch zwanzig Sekunden.«
Und bevor er das weiter ausführen kann – falls er es vorhatte – sind sie wieder on air .
Auf dem Heimweg plappert Murray über die Karriere des Tennisspielers Andy Murray – seines Quasi-Namensvetters – und ein neues Projekt, mit dem in London Elektroautos verbreitet werden sollen, und er scheint alles in allem wieder ganz der Alte zu sein.
Nachdem Xavier am Samstagmorgen die Schlüssel im Blumentopf versteckt, das Geld in der Wohnung hinterlegt und Pippa eine SMS geschrieben hat, macht er sich auf zum Scrabble-Turnier. Diese Veranstaltungen, seit Xaviers erster Woche in London ein fester monatlicher Termin in seinem Leben, finden in einem Gemeindehaus in Islington statt, das die Kirchenvorsteher vermieten, weil sie vierzigtausend Pfund für die Reparatur des Dachs über den Köpfen einer stets schrumpfenden Zahl von Kirchgängern brauchen. Die Scrabble-Turniere sind offen für jedermann, theoretisch jedenfalls, aber es kommen immer dieselben zwanzig oder fünfundzwanzig Leute, und der Gewinner (der einhundertfünzig Pfund in bar erhält), ist fast jedes Mal ein Herr aus Sri Lanka namens Vijay. Zweiter wird fast immer Xavier.
Mindestens die Hälfte der Teilnehmer haben keine Chance, den Wettbewerb je zu gewinnen, spielen aber trotzdem gern mit. Sie sind ein bunter Haufen: eine Buchhalterin, die kommt, um den Samstag nicht mit ihrem Mann verbringen zu müssen, ein Professor, ein plastischer Chirurg und ein attraktives junges Paar, zu dessen weiteren Hobbys Kajakfahren zählt (Xavier weiß das, weil der Mann in einer Partie gegen ihn einmal das Wort KAJAK gelegt hat, für 16 Punkte; es war ein schlechter Spielzug, aber seine Vorliebe für das Wort siegte über taktische Erwägungen). Außerdem kommt ein ehemals bekannter Popsänger, der 1987 einen großen Hit hatte und sich jetzt mit Auftritten in Clubs durchschlägt, die auf Kitsch spezialisiert sind. Niemand spielt je darauf oder auf irgendetwas anderes Berufliches an: Die Scrabble-Gruppe ist unter anderem dazu da, dem Leben von Montag bis Freitag zu entfliehen.
Nur ein A4-Blatt an der Tür des Gemeindehauses kündigt den Wettbewerb an: Es ist nicht die Art von Veranstaltung, die sich um neues Publikum bemüht. Xavier begrüßt per Handschlag Vijay, außerdem das Kajakpärchen und den Mann mit Vollglatze, der die Turniere organisiert. Er zahlt sein Startgeld, und der Glatzkopf legt es in eine Tupperdose. Bald denkt Xavier nur noch an Scrabble.
Im Großen und Ganzen gibt es zwei Arten, Scrabble zu spielen.
Die erste ist die, die neunzig Prozent aller Leute spielen, an Weihnachten, oder wenn die abgewetzte grüne Schachtel vom Speicher geholt wird, wenn eine Familienzusammenkunft länger dauert als die gesammelten Reminiszenzen der Familie oder wenn ein Sommerfest an einem Regentag buchstäblich ins Wasser fällt. Sie besteht ziemlich simpel darin, artig Wort an Wort zu legen: das E einer waagerechten ZANGE wird zum Ausgangspunkt eines senkrechten EINIG , das sich zu GESUND weiterverzweigt, und so weiter und so fort, ein Abfolge harmloser 10-bis-15-Punkte-Wörter, deren Werte die Spieler beiläufig addieren, bis einer von ihnen mit ein paar Punkten führt, weil er fast verschämt ein Feld mit dreifachem Wortwert erwischt. Diese Methode verstehen die meisten Menschen unter Scrabble-Spielen, eher eine gemeinschaftliche Übung im Wörterbilden als ein Wettstreit. Tritt man auf diese Art und Weise gegen einen ernsthaften Spieler an, wird man immer verlieren, wie Murray feststellen musste, als er Xavier einmal in einem Hotel herausforderte und fünfmal hintereinander verlor.
Xavier als ernsthafter Spieler versteht sich auf die zweite Methode, bei der es um die bessere Strategie statt um den Wortschatz geht. Um ein Spiel zu gewinnen, kommt es vor allem darauf an, mindestens einmal die Zusatzprämie zu erhalten (ein Bonus von 50 Punkten, wenn man in einem Zug alle sieben Buchstaben
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