Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben
Autoren: Mark Watson
Vom Netzwerk:
damit sie selbst aufschließen kann, aber das am Telefon zu erklären, könnte zu einem weiteren zehnminütigen Redeschwall führen, eine ermüdende Aussicht. Er beschließt, ihr kurz vorher eine SMS zu schreiben.
    Am Montagmorgen wird Xavier früh von Jamie geweckt, der die Treppe hoch und runter rennt und irgendwas über Bären brüllt. Xavier entschließt sich, ein Stück spazieren zu gehen, denn er fühlt sich erholt, obwohl er nur vier Stunden geschlafen hat: Vielleicht ist es nur Einbildung, aber das Bett fühlt sich bequemer an, seit es Pippas Bekanntschaft gemacht hat. Als er die Treppe hinuntergeht, schnappt sich Mel gerade ihren Sohn, und Xavier und sie tauschen wie üblich ein betretenes Lächeln aus. Xavier fragt sich, was sie wohl darüber denkt, dass er eine Putzfrau hat. Mel fragt sich, ob ihm der schlechte Zustand des Staubsaugers aufgefallen ist; einen neuen kann sie sich nicht leisten. Xavier glaubt, dass sie ihn vergangene Woche vielleicht beim Sex mit Gemma gehört hat, und Mel hat wie immer ein schlechtes Gewissen, weil Jamie ihn geweckt hat.
    »Und, wie läuft’s so?«
    Mel verzieht ihr gequältes Gesicht zu einem wenig überzeugenden Lächeln.
    »Er ist eine kleine Nervensäge. Das Auto ist kaputt, und er wollte unbedingt nach … egal. Ganz gut. Und bei dir?«
    »Och, eigentlich auch ganz gut …«
    In Mels Wohnung klingelt das Telefon und erspart den beiden für heute alle weiteren Bemühungen, sich durch ein Gespräch zu wursteln. Als er den Ausdruck sieht, den das Klingeln auf ihr Gesicht bringt – den Ausdruck von jemandem, der sich ewig mit einer Aufgabe mehr herumschlägt, als er bewältigen kann –, überkommt ihn für einen Moment das Bedürfnis, in ihre Wohnung zu gehen, das Telefon abzunehmen und ein winziges Problem für sie zu lösen, indem er eine Nachricht entgegennimmt. Vielleicht gäbe es noch andere Dinge, die er für sie tun könnte, wo er schon mal da ist. Aber dieser Gedanke erscheint ihm sofort anmaßend und dumm. Das hier ist nicht seine Radiosendung; sein Auftrag, Menschen zu helfen, geht nicht so weit, im Leben seiner Nachbarn herumzuschnüffeln. Er weiß ja gar nichts über sie. Es würde ziemlich sicher herablassend wirken, und er könnte leicht mehr Schaden anrichten als Gutes tun.
    Gerade als Mel hineingehen und das Telefon abnehmen will, kracht zwei Stockwerke weiter oben die Tür ins Schloss, und über ihnen poltern Schritte. Mel und Xavier folgen dem Geräusch mit dem Blick. Ein Mann kommt die Treppe hinunter, er rennt so schnell, dass Xavier fürchtet, er könnte stolpern und fallen. Es ist Tamaras Freund, ein gedrungener Mann, der regelmäßig in der Bayham Road Nr. 11 ein- und ausgeht; die beiden plaudern manchmal kurz mit ihm. Heute wird kein einziges Wort gewechselt. Er quetscht sich zwischen Mel und Xavier hindurch und stößt fast mit Jamie zusammen, ohne einen von ihnen wahrzunehmen. Dann schlägt er die Haustür so energisch hinter sich zu, dass sie wieder aufspringt, und Mel stürzt hin und schließt sie, bevor Jamie die Chance zur Flucht ergreifen kann.
    »Holla!«, sagt Xavier.
    »Da hat’s wohl Knatsch gegeben«, vermutet Mel.
    Und wahrscheinlich war es auch nur das, auch wenn die beiden mit einem unguten Gefühl auseinandergehen: Der Mann hatte es so eilig, und sein Blick wirkte bedrohlich, als er sie kurz ansah.
    Den Rest der Woche sieht Xavier nichts mehr von Tamara, auch wenn er wie immer hört, wie auf die Minute genau ihre Dusche rauscht und sie zur Tür hinausklackert. Aber er vergisst den Vorfall mehr oder weniger, weil ihm etwas anderes Kopfzerbrechen bereitet: Murrays ungewöhnlich niedergeschlagenes Verhalten.
    Aus den paar Jahren, die sie nun schon zusammenarbeiten, kennt Xavier von Murray nur eine recht begrenzte Bandbreite von Stimmungen, die von euphorisch (ziemlich oft) über aufgedreht (seine Standardeinstellung) bis gerade mal hinunter zu dem reicht, was die meisten Leute als »nachdenklich« bezeichnen würden. Im Laufe vieler gemeinsamer Stunden im Studio und außerhalb davon hat Xavier Murray verschiedene schwierige Ereignisse bewältigen sehen – den Tod seiner Mutter vor ein paar Jahren zum Beispiel –, ohne dass ihn irgendetwas davon dauerhaft aus der Bahn zu werfen schien. Man könnte sogar sagen, Murrays Vergnügtheit ist sein größtes Talent: sein schallendes Lachen, um das er nie verlegen ist, hat Xavier schon durch so manche lange Radioschicht geholfen, auch wenn Xaviers Fans ihn größtenteils als
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher