Elf Leben
nie im Leben des jeweils anderen, was beiden nur recht ist.
Im dritten Spiel hat Xavier schnell die Nase vorn, und als noch etwa dreißig Buchstaben übrig sind, hat er einen komfortablen Vorsprung. Dann beginnt Vijay, seine Buchstaben auszutauschen.
Vor der Schlussphase kann ein Scrabble-Spieler jederzeit eine beliebige Anzahl seiner Buchstaben gegen neue austauschen, muss dafür aber einmal aussetzen. Jeder weiß das, aber die meisten Gelegenheitsspieler und selbst manche Fortgeschrittene tauschen nur, wenn sie mit ihren Buchstaben gar nichts anfangen können (wenn sie vielleicht nur Vokale oder nur Konsonanten haben), weil sie das Aussetzen als zu hohen Preis empfinden. Selbst Xavier macht es eher als notwendige Maßnahme denn als ehrgeizigen Schritt in Richtung eines neuen Worts. Vijay hingegen findet nichts dabei. Das ist der grundlegende Unterschied in ihrer Spielweise.
Im Laufe dieses entscheidenden Spiels geht Vijay immer wieder das scheinbar unvertretbare Risiko ein, seine Buchstaben zu tauschen. Die ersten fünfundvierzig seiner sechzig Sekunden brütet er stets über dem Brett, die Brauen tief heruntergezogen, bevor er die eine leicht hebt und dem kahlköpfigen Organisator zunickt, der ihm den Samtbeutel reicht.
»Tausche zwei«, sagt Vijay und gräbt im Beutel nach neuen Buchstaben.
Es ist für jeden Spieler verwirrend, wenn der Gegner seinen Zug immer und immer wieder ausschlägt. Xavier kann sich nur darauf konzentrieren, seinen Vorsprung weiter auszubauen, das Brett so weit wie möglich zuzubauen und zu hoffen, dass Vijay entweder blufft oder in eine Sackgasse läuft. Eine Weile sieht es ganz danach aus. Xavier bekommt 20 Punkte, 23, dann wieder 20, während Vijay weiter tauscht, mit einem Pokerface die neuen Buchstaben studiert und jeden gezogenen Stein aus dem Säckchen nachdenklich befingert. Einige der beflisseneren Zuschauer stellen sich abwechselnd hinter Xavier und Vijay, um beide Buchstabenbänkchen zu sehen, wie Tenniszuschauer, die den Kopf hin und her wenden. Xavier vermutet, dass Vijay das X oder das J hat, von denen keins bisher gelegt wurde, und darauf wartet, damit in einem Wort mit sieben Buchstaben auftrumpfen zu können, was selbst für ihn schwierig werden dürfte. Xavier sammelt weiterhin bescheidene Wörter an, bis sein Vorsprung satte 70 Punkte beträgt. Als Vijay sich entschließt, noch einmal zu tauschen, kommt ungläubiges Gekicher auf, auch wenn alle ihn schon so spielen sehen haben.
Aber gerade, als Xavier glaubt, er könnte sich jetzt über die Ziellinie retten, legt Vijay gelassen das Wort VERJUXTE , wobei er an das V von BRAV andockt und sich wie ein Giftölteppich über ein Dreifach-Wort-Feld ausbreitet, das Xavier für unerreichbar gehalten hat. Mit den Buchstaben V, J und X und der 50-Punkte-Prämie ist es vernichtende 125 Punkte wert. Alle halten den Atem an, dann bricht Applaus los. Vijay lächelt weder, noch frohlockt er oder brüstet sich, sondern erwidert den Beifall nur mit einem ganz leichten Nicken. Xavier spürt einen kurzen Stich der Enttäuschung im Bauch. Das Spiel ist so gut wie gelaufen. Die Zuschauer applaudieren noch einmal, als Vijay seinen Sieg klar macht und der kahlköpfige Organisator ihm die Siegerprämie in Zehn- und Zwanzig-Pfund-Noten überreicht.
»Gutes Spiel«, sagt Xavier.
»Ich hatte schon Angst, ich hätte mich zu weit aus dem Fenster gelehnt«, gesteht Vijay und steckt seine Beute ein.
Er zieht sich eine Jacke über das Jeanshemd und lädt alle noch auf einen Drink in den Pub ein, wie er es immer tut, obwohl er selbst keinen Alkohol trinkt. Wenn Xavier gewinnt, tut auch er den anderen Spielern diesen Gefallen.
Sie gehen ins Crown and Anchor . Ein paar Leute unterhalten sich über die Fußballergebnisse. Das Kajak-Pärchen diskutiert mit ein paar anderen über Bulgarien als Urlaubsland oder guten Immobilienstandort. Wie immer bleiben die Gespräche allgemein und oberflächlich. Das ist einer der Gründe, weshalb sich Xavier in dieser Runde so wohl fühlt; selbst wenn ein oder zwei Leute seine Stimme aus dem Radio kennen sollten, was gut möglich ist, ist es unwahrscheinlich, dass je das Gespräch darauf kommt.
Nach einem Glas beschließen alle aufzubrechen, und gegen acht Uhr steigt Xavier in einen Bus der Linie 19. Er hebt einen zerknitterten Evening Standard auf, der seit dem Vortag, als ihn jemand nach dem Einkaufen auf dem Sitz liegen ließ, unter den Fahrgästen kursiert. Ohne wirkliches Interesse liest er das erste, was
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