Elf Leben
ihm ins Auge fällt: eine äußerst negative Kritik über ein Restaurant in der Stadt, das Chico’s.
Die kleinliche Besprechung wirkt sich bei Chico’s auf alle aus, vom beleidigten Chefkoch bis hin zu Julius Brown, dem übergewichtigen Teenager, der für fünf Pfund die Stunde im Gewusel der Küche Teller wäscht.
Julius macht sich um sieben Uhr abends auf den Weg zum Bus, er muss mehrmals umsteigen und braucht eine Stunde zur Arbeit. Er wird bis ein Uhr morgens spülen. Er hätte gern einen Job in der Nähe, aber immer, wenn er irgendwo um ein Bewerbungsformular bittet, sieht er, wie der Geschäftsführer mit missbilligendem Blick seine Wabbelmassen mustert. Er hat sich um IT -Jobs beworben, um Jobs im technischen Support, in Callcentern – an Orten, wo ihn niemand sehen muss, aber die sind gut bezahlt und dementsprechend gefragt, und da er noch zur Schule geht, kann er keine Vollzeitstelle annehmen.
Julius hatte schon vor der Arbeit einen anstrengenden Tag. Er hat zwei volle Stunden im Fitnessstudio hinter sich gebracht: Eine Stunde lang ist er tapfer über das wimmernde Laufband gestapft, wobei der Schweiß sein graues T-Shirt verfärbte und sich in Kniekehlen, Armbeugen und im Kreuz sammelte. Er ignorierte die Blicke der Leute, die auf den benachbarten Bändern doppelt so schnell liefen. Dann absolvierte er zwei Runden an den Gewichten, eine Trainingseinheit im Bankdrücken und machte zum Abschluss ein paar Übungen zum Abkühlen. Als wären seine Glieder mit nassem Sand gefüllt, schleppte er sich zu den Umkleideräumen und wartete, bis eine geschlossene Duschkabine frei wurde, weil er keine Lust hatte, seinen bleichen Puddingkörper in der Gemeinschaftsdusche den kritischen Blicken der Fitnessfreaks auszusetzen, die den Großteil des Stammpublikums ausmachen. Er wog sich; sein Gewicht war seit letzter Woche unverändert.
Auf dem Weg nach draußen erinnerte ihn die Angestellte daran, dass er beim nächsten Mal seinen Mitgliedsbeitrag für einen weiteren Monat zahlen müsse. Jedes Mal, wenn er kommt, wirkt sie belustigt. Draußen auf der Straße sah Julius ein hübsches Mädchen aus seinem Mathekurs, das Amy heißt und eine Schildpattbrille trägt; sie stand vor dem Kino und unterhielt sich mit einem anderen Mädchen. Er senkte im Vorbeigehen den Blick und hörte, wie die beiden hinter ihm lachten.
Als Julius die Küche betritt, warnt ihn sein minimal besser bezahlter Vorgesetzter Boris, ein Ukrainer, dass der Restaurantmanager »gewaltig schlechte Laune« habe. Es wird noch mehr gebrüllt als sonst. Der gereizte Küchenchef staucht die Kellner zusammen, um Klarheit in wirre Bestellungen zu bringen: »Was heißt denn das hier, verdammte Scheiße? Soll das eine Zwei oder eine Drei sein? Ach, leck mich doch!« Der Souschef hantiert krakenarmig mit Pfannen, schwenkt in einer hektisch Gemüse, beflüstert Fleischspieße in einer anderen, begutachtet ein Tablett mit Karamelldesserts und schüttelt fluchend den Kopf. In und um die riesigen Spülbecken türmen sich Berge schmutziger Teller.
»Wird gewaltig schlechter Abend, Mann«, prophezeit Boris düster.
Er spart Geld, um es nach Hause zu seiner XXL -Familie zu schicken, und wünschte, er könnte sie eines Tages einmal mit hierher nehmen, um ihnen zu zeigen, wie die Leute in London essen.
Als Xavier nach Hause kommt, beschleicht ihn ein ungutes Gefühl: Irgendetwas stimmt hier nicht. Wachsamer als sonst und ohne konkreten Grund für seine Vorsicht geht er die Treppe hoch (»Here we go, here we go, here we go again«, droht die Dame im Fernsehen hinter Mels Tür) und betritt seine Wohnung. Er wirft seinen Mantel aufs Bett und geht in die Küche, und die Verunsicherung dauert ein paar Minuten an. Dann dämmert es ihm: Es ist nicht, dass etwas nicht stimmen würde, sondern etwas ist anders. Pippa hat sich die Wohnung ein zweites Mal vorgeknöpft. Er hat ganz vergessen, dass sie am Nachmittag da war.
Obwohl es noch vom letzten Mal ganz anständig aussah, hat sich das Erscheinungsbild abermals deutlich verbessert. Auf der Treppe zur Wohnungstür wurde Staub gesaugt, und der altmodische, abgetretene Teppich federt fast unter seinen Füßen. Das Arbeitszimmer ist makellos, alles steht genau an seinem Platz. Die Bettdecke ist glatt wie ein Bergsee, die Laken darunter gleichen frischem Papier. Nach und nach entdeckt Xavier noch mehr, was Pippa gemacht hat. Auf dem Küchentisch stehen frische Blumen. Die Vase, sauber geschrubbt, hat ihr Dasein seit seinem Einzug
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