Elf Leben
ablegt) und so viele Punkte wie möglich aus Buchstaben wie X, Y und Q herauszuholen – sie sind Schwergewichte auf dem Scrabble-Brett, denn Scrabble ist eine Art Umkehruniversum, in dem die am wenigsten nützlichen Buchstaben des Alphabets die wertvollsten sind. Ein Spieler, der ein hübsches Wort wie NUDIST für sechs Punkte legt, wird einem Spieler, der JA , EX oder NY auf einem Feld mit dreifachem Wortwert unterbringt und noch einen 50-Punkte-Bonus kassiert, stets unterlegen sein. Womit wir beim eigentlichen Geheimnis von Scrabble wären: die Zweibuchstabenwörter. Ein echter Scrabble-Spieler kennt sie alle, alle siebzig oder so, darunter UR , ein anderer Name für Auerochse, QI (ein Wort aus der chinesischen Philosophie für Lebensenergie) und XI , das im Scrabble-Wörterbuch einfach als griechischer Buchstabe definiert wird und schon für sich allein ein potentieller Matchwinner ist.
Der Nachmittag spielt sich mehr oder weniger ab wie erwartet. Obwohl alle Spieler dort die Zweibuchstabenwörter zumindest im Hinterkopf haben, kann kaum jemand bei Xaviers Tempo mithalten: Im Wettbewerbs-Scrabble hat man pro Zug nur eine Minute, bevor man vom vorwurfsvollen Piep-piep-piep der Scrabble-Uhr unterbrochen wird. Xaviers zweite Hauptwaffe ist sein Talent für Siebenbuchstaben-Anagramme: Im zweiten Spiel streckt er seinen Gegner mit TAVERNE nieder (62 Punkte, mit Zusatzprämie); andere müssen bei TINGELN und RENNRAD dran glauben. Im Laufe des Nachmittags kann Xavier sehen, wie sein Hauptgegner Vijay auf der anderen Seite des Saals mit derselben Unbarmherzigkeit Spiel für Spiel für sich entscheidet. Um halb sechs setzen sich die beiden zum Finale zusammen. Jetzt geht es um die üblichen hundertfünfzig Pfund. Die besiegten Spieler versammeln sich bis auf einige wenige um das Brett, um diese Schlussszene mitzuverfolgen: Der Xavier-Vijay-Showdown ist ein ebenso fester Bestandteil des Nachmittags wie ihre eigene Teilnahme an den früheren Partien.
Das Finale ist ein Best-of-three. Xavier und Vijay betrachten einander über das Brett hinweg, mit der Zuneigung alter Konkurrenten. Im ersten Spiel hat Xavier das bessere Händchen: Mit einem Blankostein und einem K auf dem Bänkchen kann er früh im Spiel RAKETEN legen und die 50-Punkte-Prämie absahnen. Vijay gelingt schließlich ein Revanche-Bingo, aber zu spät. Als sie einander die Hand schütteln, braucht Xavier noch einen Punkt für den Gesamtsieg.
Im zweiten Spiel geht es sehr viel defensiver zu. Vijay hält einen leichten Vorteil von einem frühen Q, aus dem er 40 Punkte herausgeschlagen hat, und macht sich jetzt daran, alle noch freien Prämienfelder zu blockieren. Xavier ist gezwungen, sich mit kurzen Wörtern hier und da über Wasser zu halten, und hat keine Chance mehr auf ein Bingo, weil Vijay mit seiner Strategie alle Teile des Spielbretts zubaut, bis nirgends Platz mehr dafür ist. Xavier rutscht auf dem Stuhl herum, ihm ist warm, zum Teil wegen des Drucks beim Spiel, zum Teil aber auch wegen der Heizungsanlage im Gemeindehaus: Der glatzköpfige Organisator entscheidet sich im Zweifel lieber für feuchte Wärme als jene mutlos machende Kälte, die man aus Kirchen kennt.
Die Menge um das Brett verharrt in aufmerksamer Stille. Als das Handy des Ex-Popstars klingelt, verlässt er den Saal, bevor er das Gespräch annimmt. Draußen heulen Krankenwagensirenen; es hat einen Autounfall gegeben, weil jemand die steile Parallelstraße der Bayham Road hinuntergerast ist. Vijay fährt schonungslos fort, Xaviers Möglichkeiten zu beschneiden, dann gehört der Sieg ihm. Wie fast immer bei den beiden läuft es auf ein Entscheidungsspiel hinaus.
Es gibt eine kurze Pause, damit sich alle »die Füße vertreten« können, wie es der kahlköpfige Organisator jedes Mal wieder ausdrückt. Die Zuschauer unterhalten sich in gedämpfter Lautstärke – obwohl es in dieser Pause keinen Grund gibt, leise zu sein, haben die letzten Etappen des Wettbewerbs immer etwas Feierliches. Xavier und Vijay bleiben am Spielbrett sitzen und unterhalten sich freundlich.
»Was macht die Forschung?« Xavier weiß, dass Vijay am UCL irgendwelche Studien über künstliche Intelligenz durchführt.
»Ratlos, wie immer.«
Vijay ist ungefähr Mitte vierzig, hat ein jungenhaftes Lächeln und trägt immer Jeanshemden. Er gehört zu den Menschen, die ihr Leben lang mit akademischen Einrichtungen zu tun haben.
»Und, wie läuft’s so bei dir?«, fragt Vijay.
»Ganz gut, danke.«
Tiefer graben sie
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