Elf Leben
im Schrank gefristet; die Blumen muss Pippa mitgebracht haben. Auf dem Waschbecken im Bad liegt ein Stück Seife, und auch hier hat Xavier den Eindruck – falls es nicht in irgendeinem verborgenen Winkel versteckt war –, dass sie es selbst mitgebracht hat. Bei einem Blick in die Küchenschränke sieht er, dass fast alle Lebensmittel entsorgt wurden.
Auf dem Küchentisch findet Xavier eine handschriftliche Notiz von Pippa. Sie hat einen Block aus dem Arbeitszimmer benutzt, und die Schrift ist groß, rund und üppig – sie erinnert irgendwie an die Schreiberin.
Ich war so frei, die meisten deiner Lebensmittel wegzuwerfen. Sie waren schon ziemlich lange verfallen.
Im Laufe der nächsten Stunde entdeckt Xavier weitere Zettel.
Du musst dir noch ein paar Tassen kaufen. Manche von denen hier sind nicht mehr zu retten, selbst von mir nicht.
Du brauchst unbedingt eine Toilettenbürste!
Ich weiß zwar nicht, ob mich das etwas angeht, aber während ich gearbeitet habe, kamen von oben ein paarmal seltsame Geräusche. Es klang nach einem ziemlich heftigen Streit, fand ich. Aber das weißt du besser als ich.
Beim nächsten Mal bräuchte ich noch das eine oder andere Putzmittel, damit ich mir ein paar speziellere Sachen vornehmen kann. Die genauen Angaben schicke ich dir per SMS , wenn es dir recht ist. Die Blumen waren nicht teuer, 4£ das Bund, das Geld kannst du mir beim nächsten Mal zurückgeben, wenn du auch findest, dass sie eine schöne Ergänzung sind. Die Seife schenke ich dir.
Erst Stunden später, als er ins Bett geht – ausnahmsweise einmal zu einer normalen Uhrzeit, um Mitternacht – findet Xavier in der Falte seiner Bettdecke den letzten Zettel.
Tut mir leid, falls ich es mit den ganzen Zetteln etwas übertrieben habe. Mir ist gerade aufgefallen, dass es aussehen könnte, als hätte ich sie nicht mehr alle. Also dann bis zum nächsten Mal, falls du nicht schon die Polizei gerufen hast.
Xavier grinst.
Er denkt an seine beiden Begegnungen mit Pippa, bei dem mittlerweile fast vergessenen Speed-Dating und dann letzte Woche. Er versucht, sich ihr Gesicht vorzustellen, hat aber mehr Erfolg bei ihrem sehr hellen Haar und den imposanten Brüsten. Er überlegt, ob Witze darüber, verrückt zu sein, nicht genau von den Leuten kommen, die verrückt sind . Ihm ist etwas mulmig bei dem Gedanken, dass sie seine Handynummer hat und unbekümmert davon redet, ihm eine SMS zu schicken. Sie scheint zu den Menschen zu gehören, die ohne jeden Vorwand um drei Uhr morgens anrufen. Natürlich ist Xavier um drei Uhr morgens normalerweise wach, aber trotzdem.
Er denkt eine Weile über das Scrabble-Turnier nach und fragt sich, ob er wohl gewonnen hätte, wenn er mehr gewagt und wie Vijay auf eine höhere Punktzahl gepokert hätte, statt nach dem Motto ›Kleinvieh macht auch Mist‹ zu spielen. Oder sollte heute von vornherein Vijays Tag sein, war es auf einem wie auch immer gearteten höheren Plan festgelegt? Andererseits, wenn es irgendeinen Plan gibt, warum hat es Xavier dann hierher verschlagen, und war alles davor bloß eine Folge von Ablenkungsmanövern? Bevor er sich in die Art von Selbstreflexion vertiefen kann, von der er seine Hörer immer abzubringen versucht, greift Xavier nach der Zeitung aus dem Bus und versucht, sich etwas anderem zuzuwenden. Sie ist immer noch auf der Restaurant-Seite aufgeschlagen. Der Wirbel um das Chico’s , steht da, macht deutlich, wie schlecht es in der Metropole um spanische Küche von internationalem Format bestellt ist.
Irgendwann zwischen Mitternacht und ein Uhr hat der erschöpfte Julius Brown in der feuchtwarmen Küche des Chico’s ein paarmal das seltsame Gefühl, im Stehen einzuschlafen, nur für ein paar Sekunden, bevor er schlagartig wieder wach wird. Jedes Mal sieht er für den Bruchteil einer Sekunde ein Bild, wie eine Traumscherbe, weggebrochen vom Rest, wie ein Einzelbild von den Millionen, aus denen ein Film besteht. Julius ist riesig und schreitet über die Häuser. Zack, ist er wieder wach. Dann ist er im Fitnessstudio und stapft so schnell er kann über das Laufband, aber irgendwie weiß er, dass es immer schneller werden und ihn abwerfen wird. Zack, wach. Er sitzt vor einem Computer, und jemand wartet darauf, dass er ihn repariert, aber es gelingt ihm nicht, die Betriebssprache auf Englisch umzustellen. Zack, ist er wieder wach und hält immer noch einen Teller in der Hand, von dem Spülschaum und Wasser tropft. Boris, sein Vorgesetzter, packt ihn am
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