Elf Leben
auch sonst ziemlich ungehobelt. Wir hatten zum Beispiel diese Freunde, Bec und Russell, die versuchten schon seit Ewigkeiten, ein Kind zu bekommen, und Matilda fragte sie immer, wie es im Bett läuft, auf so, äh, anzügliche Art. Bis wir irgendwann merkten, ups, vielleicht haben die ja wirklich ein Problem, und von da an hielt sie sich zurück.«
»Das ist die Gefahr an Witzen über Sex«, stimmt Pippa zu.
»Hm, und außerdem …«, überlegt Xavier. »Außerdem lief sie oft splitternackt durch die Wohnung. Das passt wohl zu ihrer versauten Art. Sie war eine ausgezeichnete Köchin. Und sie hatte viele Sommersprossen.«
»Mehr als ich?«
»Viel mehr. Die Leute in England wissen doch überhaupt nicht, was Sommersprossen überhaupt sind. Sie ging regelmäßig Trampolinspringen. Und sie bekam manchmal Nasenbluten. Reicht das?«
»Das reicht«, sagt Pippa, öffnet den Reißverschluss ihres blau-gelben Wäschesacks und stellt ihre Infanterielinie aus Sprays und Reinigungsmitteln auf. Xavier zieht sich ins Arbeitszimmer zurück und lauscht den inzwischen vertrauten Geräuschen: rauschendes Wasser, Putzmittel speiende Sprühflaschen und Gegenstände, denen trommelnd, schabend und quietschend Ordnung und Sauberkeit beigebracht wird.
Xavier fällt es immer schwer, sich zu konzentrieren, während Pippa saubermacht. Heute sollte er eigentlich die lauwarme Filmkritik verfassen und sich um seine E-Mails kümmern. Clive Donald hat ihm wieder geschrieben: Diesmal spricht er von wachsender Verzweiflung und lässt durchblicken, dass Xaviers Sendung zu den wenigen Dingen gehört, die ihm noch Mut machen. Wie immer bleibt Xavier wenig anderes übrig, als den Lehrer aus seinem Kopf zu verbannen, egal wie schlecht er sich dabei fühlt.
Als er gegen Ende von Pippas Schicht in den Flur geht, steht sie vor einem Schrank, den er nur selten aufmacht, und hält ein Foto in der Hand.
»Mir ging die Arbeit aus«, sagt Pippa, »weil es hier schon ziemlich sauber ist, deshalb hab ich mal, äh …« Sie deutet auf den Schrank, in den Xavier beim Einzug allen möglichen Kram gestopft hat – Kisten, Tüten, Sachen, die man nicht braucht, aber auch nicht wegwerfen kann –, der dort seitdem unter einer Staubschicht schlummert.
»Mutig von dir, dich da ranzuwagen.«
»Mir entgeht nichts«, sagt Pippa. »Der eine, bei dem ich putze, den hab ich dazu gebracht, dass er den Telefonanbieter wechselt. Dann hab ich ihm seine Sky-Kanäle neu sortiert und Ordnung in seine Hausratversicherung gebracht.« Sie zählt ihre Taten an den Fingern ab. »Und seine Freundin schaffe ich ihm auch noch vom Hals. Du kommst noch ganz gut weg, wenn ich bloß dein Zeug ein bisschen aufräume.«
»Du schaffst ihm … seine Freundin vom Hals?«, fragt Xavier.
»Ich meine nicht umbringen!« Sie lachen beide. »Aber er ist viel zu sehr Memme, um sie in die Wüste zu schicken, dabei nimmt sie ihn aus wie eine Weihnachtsgans. Ich werd mal was einfädeln und ein Wörtchen mit ihr reden.« Sie reibt sich nachdenklich die Nase. »Und wenn das nichts nützt, muss ich ihr wohl wirklich den Hals umdrehen.«
Es gibt eine Pause, und Xavier sieht, wie sie das Foto in ihrer Hand anschaut.
»Darf ich mal echt neugierig sein, Schätzchen? Ist eine von denen Matilda?«
Er betrachtet das Bild; er wusste gar nicht mehr, dass er es noch hat, es muss aus irgendeiner Kiste gefallen sein. Es zeigt Bec, Russell, Matilda und ihn im York Minster, auf ihrer großen Europa-Rundreise im Sommer 2002. Sie schauen alle auf den Boden, wie aus großer Höhe, dabei stehen sie bloß im Mittelschiff der riesigen Kirche. Bec trägt ein Kleid von Harvey Nichols. Russells Mondgesicht unter einer Baseballkappe sieht aus, als drohte sein breites Grinsen es jeden Moment zu sprengen. Chris hat einen Zweiwochenbart. Matilda – er zeigt auf sie – trägt ein Diadem, das er ihr aus Spaß bei Harrod’s gekauft hatte, und ein tief ausgeschnittenes Trägertop.
»Das ist sie.«
»Sehr hübsch.«
»Ja.« Xavier hustet. »Der Grund für das Foto war … die zwei da, Bec und Russell, die wollten wie gesagt immer so gern ein Baby haben, aber es hat Jahre gedauert, und an dem Tag, bevor wir nach York gefahren sind, hat Bec gemerkt, dass sie schwanger ist. Wir wollten hoch auf den Turm im York Minster steigen, und da sagte sie dann so ganz beiläufig: ›Ach, ich komm lieber nicht mit, wo ich doch schwanger bin und so.‹ So hat sie damit herausgerückt. Matilda und ich sind fast ausgeflippt. Wir waren
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