Elf Leben
ist sich nicht sicher, ob er wirklich ein guter Gastgeber zu sein versucht oder einfach nur hofft, sie mit seinen Bemühungen zu belustigen. Zu Hause beginnt er mit dem oberflächlichen Vor-Putzen vor ihrem Besuch, aber eigentlich muss kaum etwas gemacht werden: Im Laufe ihrer wenigen Besuche hat in seiner Wohnung in Sachen Sauberkeit eine Trendwende stattgefunden. Das wirft natürlich die Frage auf, ob sie wirklich noch jeden Samstag kommen muss. Er kann sich gar nicht mehr so richtig erinnern, wie das zu jener festen Gewohnheit wurde, nach der es sich schon anfühlt.
Gegen zehn vor zwölf klingelt es. Xavier hält inne: Er wollte gerade ein etwas weniger knitteriges Hemd anziehen. Anscheinend kommt sie immer etwas zu früh oder zu spät. Doch unten an der Tür steht nicht Pippa, sondern eine Frau in einem schwarzen T-Shirt, mit Selbstbräunergesicht, einer Art Lichtbildausweis um den Hals und einem Klemmbrett unter dem Arm.
»Hallo«, sagt sie. »Ich würde gern ein paar Minuten Ihrer Zeit in Anspruch nehmen und Ihnen eine wunderbare Möglichkeit vorstellen, wie Sie Menschen helfen können, die weniger Glück hatten als Sie. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, Menschen zu helfen, die weniger Glück hatten als Sie?«
»Äh …«, sagt Xavier.
Kurz nach der Uni hatte er die Patenschaft für ein Kind in Ghana übernommen und spendete monatlich fünfundzwanzig Dollar, doch bald erschien ihm das als armselige Geste, ein Tropfen auf dem heißen Stein, deshalb spendete er eine Zeit lang dreißig Dollar im Monat an eine Obdachlosenunterkunft und arbeitete dort manchmal samstags mit Matilda. Daraufhin wurde er ehrenamtlicher Mitarbeiter einer Aids-Hilfe, und so weiter, wobei jede gute Tat dem leicht zu beeindruckenden Chris vor Augen führte, was es noch alles zu tun gäbe. Nach ein paar Jahren bereitete eine finanzielle Durststrecke diesem wohltätigen Engagement ein Ende, und heute blickt Xavier mit einer gewissen Beschämung auf das Ganze zurück.
»Ich bin gerade ein bisschen … also ich … ich möchte lieber nicht …«, stammelt Xavier.
Die Spendensammlerin mit ihrer glänzenden Haut und dem flehenden Blick ist auf halbherzige Antworten geschult; ihre auswendig gelernte Erwiderung ist maßgeschneidert dafür.
»Ich weiß, was Sie jetzt denken – ich bin gerade knapp bei Kasse, und ich muss erst einmal sehen, wo ich selber bleibe.«
Xavier hat den irritierenden Eindruck, dass dem Mädchen kaum bewusst ist, was es da redet, als wäre es eine Laienspielerin an der High School, die ein langes Stück Shakespeare herunterrasselt.
»Nein, das ist es nicht, wirklich, nur …«
Am Rande seines Blickfelds sieht Xavier, wie Mel mit Jamie die Straße herunterkommt, und der Junge bückt sich, um irgendetwas Schmutziges vom Gehweg aufzuheben, unbeeindruckt von Mels Einwänden. Kurz vor der Haustür geht sie langsamer. Mel steht jetzt neben Xavier, die Wohltätigkeitsdame direkt vor ihm, und Jamie hüpft herum, wirft sein neues Spielzeug – ein Blatt – in die Luft, hebt es auf und wirft es wieder hoch.
»Nicht auf die Straße, Jamie«, sagt Mel.
Die Spendensammlerin versucht, den Faden wieder aufzunehmen. »Also, worüber ich heute mit Ihnen sprechen möchte …«
»Entschuldigung, störe ich?«, fragt Mel Xavier.
»Nein, ganz im Gegenteil, vielleicht haben Sie ja auch Interesse«, sagt das Mädchen und richtet ihre strahlenden Augen auf Mel. »Ich habe dem Herrn hier – Sie haben mir noch gar nicht verraten, wie Sie heißen –«
»Xavier.«
»Ich habe Xavier gerade von einer tollen Möglichkeit zu helfen –«
» JAMIE , NICHT AUF DIE STRASSE «, schreit Mel heiser. Sie wendet sich dem Mädchen zu. »Tut mir leid, aber ich musste gerade ein paar von seinen Büchern für fünfzig Cent das Stück bei eBay verkaufen.« Sie zeigt auf Jamie. »Beim besten Willen, ich kann nicht.«
»Okay, kein Problem«, sagt das Mädchen eilig; sie hat sich bereits darauf festgelegt, dass Xavier derjenige ist, auf den sie sich konzentrieren muss. Sie wendet sich wieder an ihn. »Könnten wir also kurz reingehen, und ich erzähle Ihnen etwas mehr darüber?«
»Ich, äh …«
Oben auf dem Hügel taucht Pippa auf, auf einem Fahrrad, und ihr gemustertes Kleid flattert auf beiden Seiten, als sie ihre kräftigen Beine während der Abfahrt lose herabhängen lässt. Alle drei drehen sich um und sehen sie an. Das Kleid, grün mit weißen Margeriten darauf, hat Pippas Großmutter 1956 auf der King’s Road
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